Der Held

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DER HELD

Cadillac Limousine 1971

 

Folgendes geschah ein paar Wochen vorher, bevor ich nach Mersin kam. Also habe ich es nicht selbst erlebt, sondern von den Burschen im "Befreitem Gebiet" erzählt bekommen. Ich werde versuchen, die Geschichte nach zu erzählen. Da inzwischen fünfzig Jahre vergangen sind, kann ich nicht dafür haften, wenn etwas nicht stimmen sollte.

"Ich mache eine Runde am Atatürk-Platz.", sagt Mustafa.

"Erst sehe ich fünf Soldaten in einer mir nicht bekannten Uniform, dahinter zwanzig TR (=sog. Republik der Türkei) -Soldaten. Die fremden Soldaten gehen zum Blind Misto und schauen ihn von unten an als ob er ein sonderbarer Vogel wäre. Ich bin auch hin gegangen.

Was sehe ich? Vor den Stiefeln des Blind Misto steht eine Limousine! Zuerst habe ich gedacht, dass er herunterkommt, in das Auto einsteigt und dann zschhhhttt weg! Ich habe mich gefreut. Dann habe ich gedacht, dass er nie einen Führerschein gehabt hat.

Hinter der Heckscheibe des Autos ist ein Papier geklebt:
Direkt von den Amerikanern. Weitere Auskünfte in dem Tabakmonopolladen (=Tabak Trafik).

Ich bin zum Tabakverkäuferladen gegangen. Vor dem kleinen Laden warten fast fünfzig Leute: Original Marlboro zum halben Preis!

Ich bin gleich zum Genossen Direktor gelaufen und habe gesagt: Genosse Direktor! Blind Misto hat wieder ein Karagöz (=Schattentheater) veranstaltet. Gleich vor seinen Stiefeln. Bitte komm mit und schau dir das an.

Er ist langsam aufgestanden. Seine Zeitung sorgfältig gefaltet. Seine Amtspistole herausgeholt und die Ladung geprüft. Dann hat er gesagt: Gehen wir!

Er hat den Atatürk-Platz von außen kurz besichtigt. Dann sind wir gemeinsam zum Polizeidirektor gegangen. Er hat gesagt: Herr Direktor! Ich bin ein Mann des Gesetzes. Das Gesetz sagt, das jedes Schiff, das an unserem Hafen anlegt, eine Deklaration der zollbaren Waren abgeben muss. Die USA-Schiffe haben das nicht gemacht. Im Gegensatz: Sie verkaufen öffentlich am Atatürk-Platz Schmuggelwaren.
Ich brauche sofort ihre amtliche Unterstützung.
Hier ist der Bescheid des Zollamts wegen Kollaboration. Bitte verhaften sie den Tabakverkäufer.
Hier ist der Bescheid wegen Konfiszierung des Autos. Bitte helfen sie uns, das Auto ins Zollamt-Depot zu bringen.
Wir müssen das Schmuggel verdächtige Admiralsschiff zur Anlegebrücke zwingen. Wir haben nur drei Motorboote. Bitte unterstützen sie uns mit zusätzlichen drei Polizeibooten.

Herr Direktor! sagt der Frukko. (Da die viel eckigen Kappen der Polizisten ähnlich wie die Deckeln der Coca-Cola-Limonaden Frukko in der Türkei ausschauten, nannten wir die Polizisten damals Frukko.)

Sie handeln sicher richtig. Ich werde sie sicher unterstützen. Gesetz ist Gesetz. Nur, das ist eine sehr heikle Sache. Wir haben von unseren Paschas -Gott beschütze sie- eine Anweisung erhalten. Die USA-Soldaten werden ihre Puffbesuche - verzeihen sie den Ausdruck- nicht massenweise, sondern in kleineren Gruppen absolvieren. Die Schiffe werden nicht an der Küste, sondern weit weg im offenen Meer verankert, damit sie nicht der Bevölkerung auffallen. Dafür haben wir die lokalen Zeitungsreporter gewarnt, über den Besuch der sechsten Flotte nicht zu berichten. Sie bekommen von mir alles, was sie benötigen. Aber bitte, über diese Angelegenheit darf nichts an die Presse durchsickern werden. Können sie mir das versprechen?

Was bleibt ihm übrig? Er verspricht.

Drei Polizeiboote sind an die Anlegebrücke des Zollamts geschickt.

Danach holt Genosse Direktor im Namen des Gesetzes den beeideten Gerichtsdolmetscher. Der arme Mann kratzt seinen Kahlkopf und zittert wie das Herbstlaub.

Also, das Boot mit Genosse Direktor, ich neben ihm, und der Gerichts-Dolmetscher mit Megafon vorne, hinter uns fünf weitere Boote, starten wir von der Zollamts-Anlegebrücke Richtung Admiralschiff.

Zwanzig Meter vor dem Schiff halten wir an und der Dolmetscher ruft mit seiner zitternden Stimme:
In the name of the law- customs control!

Alle Boote bleiben neben dem Schiff stehen und außer die Bootsführer stiegen wir alle die Eisentreppe auf den Seiten des Schiffes hinauf. Dann steigen wir auf die commando bridge. Es wimmelt von Marines, aber alle schauen nur zu, ohne sich zu rühren.

Oben wartet der Admiral auf uns stehend. Rundherum einige hohe Offiziere nach ihrer Dekoration zu beurteilen. Genosse Direktor steht gegenüber dem Admiral. Wir drehen ihn unsere Rücken zu und geben Rückendeckung.

Genosse Direktor sagt: Herr Offizier. Sie haben keine Zolldeklaration abgegeben. Bitte führen Sie ihr Schiff an die Anlegebrücke. Wir werden eine Untersuchung durchführen.

Admiral sagt nur Yes!, und das Riesenschiff, größer als ein Grätzel in der Stadt, dreht sich langsam Richtung Küste. Genosse Direktor will das Kriegsschiff der Bevölkerung zeigen.

Niemand sagt ein Wort, niemand macht ein Geräusch.

Wir fahren langsam weiter."

"Idioten!", sage ich, Das Schiff ist Flugzeugträger. Wenn ein Flugzeug aufstiege, würde Mersin in zwei Minuten Hiroschima!"

"Ho- Ho- Ho Chi Minh! Zwei, drei, noch mehr Vietnam!", sagt Mustafa und kichert.

Dann setzt er fort.

"Genosse Direktor klärte uns vorher auf: Wir brauchen keine Angst zu haben. Sie werden uns keinen Widerstand leisten. Die USA kann sich kein weiteres Vietnam leisten. Wenn sie in TR jemand umbringen wollen, haben sie dafür ihre Lakaien: Die TR-Paschas sind bereits an der Macht. Die USA- Soldaten werden hier niemanden töten. Angst haben sollen wir nur von den Paschas. Sie werden hier viele Menschen töten.

Eine Menge Menschen waren am Hafen versammelt. Manche fotografierten. Allein das war ein Erfolg.

Genosse Direktor schrie durchs Megafon: Platz machen! Amtshandlung!"

"Wir haben ohne den kleinsten Widerstand das ganze Schiff untersucht.", sagt Hüseyin. Tonnenweise Marlboro und tonnenweise Nylon Strumpfhosen. Das war ihr Zahlungsmittel im Puff."

"Wie ist es dann weitergegangen?", frage ich.

"Das Admiralsschiff haben wir mit Ketten an der Anlegebrücke gebunden.", sagt Ali.

"Natürlich war uns klar, dass es, wenn es wegfährt, nicht nur die Brücke sondern das ganze Stadtviertel mitnehmen würde. Genosse Direktor ist am Abend nach Hause gegangen. Wir und die Frukkos in sechs Booten haben Tag und Nacht Wache geschoben. Inzwischen haben die Amerikaner die Zolldeklaration abgegeben. Und die ziemlich hohe Zollstrafe bar mit Dollar bezahlt. Der Cadillac blieb im Zollamtsdepot. Vielleicht gehört er jetzt einem der Paschas in Ankara. Nach fünf Tagen sind sie wieder weggefahren. Übriggeblieben ist der Tage lange fragende Aufruhr in der Stadt."

"Vater! Was war da los?", frage ich.

"Die Faschisten töten jeden Tag meine Kinder.", sagt er. "Und ich schaue nur zu. Auf die Bergen zu gehen hindert mich mein Rheumatismus. Außerdem habe ich meine Familie. Dafür habe ich die Macht meines Amtes. Ich habe entschieden, diese zu benützen. Leider nur fünf Tage lang konnte ich die Aktion durchziehen. Ich hoffe, dass ich die wahnsinnigen hindern konnte, fünf Tage lang in Vietnam unschuldige Menschen zu töten.

Nach fünf Tagen hat mich die Polizei zur Provinz-Hauptmannschaft begleitet. Der Oberfaschist sagte mir: Herr Direktor! Wir schätzen sie hoch. Sie sind wirklich ein Mann des Gesetzes. Sie haben sicher richtig gehandelt. Aber wir haben den Befehl von oben. Gott sei dank regieren uns derzeit unsere Paschas. Gott beschütze sie. Und unsere Paschas sind Vertreter der Nato. Sie haben die Militärmacht der Nato an ihrer Pflichtausübung gehindert. Daher haben die Paschas entschieden, dass sie Sie sofort von ihrem Amt entlassen und durch einen Offizier ersetzen werden. In diesem Fall bekommen Sie ein Disziplinarverfahren und verlieren ihre Pension.
Da Sie sich aber immer an die Gesetze gehalten haben, haben sie die Möglichkeit, selbst eine Frühpensionierung zu beantragen. In diesem Fall werden Ihre besonderen Verdienste voll anerkannt und sie bekommen ohne Abschlag die höchste Beamtenpension. Überlegen Sie es sich bis Morgen.
Ich habe gesagt, ich beantrage sofort eine Frühpension.
Bis ich die Verständigung bekomme, darf ich weiter amtieren. Dann fahren wir alle nach Istanbul zurück."

"Was sagt meine Mutter dazu?", frage ich.
"Deine Mutter und deine Geschwister wissen von der ganzen Geschichte nichts. Bitte nicht geschwätzig werden. Sie wollen zurück nach Istanbul. Ich darf noch eine Weile amtieren. Ich werde mich darum kümmern, dass ich die Jungs hier gut unterbringe."

Bald war Genosse Ex-Direktor in Istanbul in seinem eigenen Haus. Eines Tages wollte er unter der Mittagshitze seine geliebten Heckenrosen stutzen. Ein Hirnschlag warf ihn zu Boden. Er lag einige Monate im Koma. Meine Mutter und meine Schwester pflegten ihn.

Die Nachricht über seinen Tod bekam ich erst nach einem Jahr. Meine Mutter behauptete, dass er an Sehnsucht nach mir gestorben sei.

Meine Mutter hat ihn vierzig Jahre überlebt. Sie bekam die volle Witwenpension und einige Privilegien. In dieser Zeit war ich öfters nicht im Stande, mich selbst zu ernähren. Ohne dieser Pension war meine Mutter verhungert.


 

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017