Abschied

 

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
ABSCHIED

 

Mit dem Schreiben von Mario Bey in der Tasche glaube ich, dass ich nach der nächsten Kreuzung in Hamburg sein werde. Ich darf nicht mehr Zeit verlieren. Jetzt bin ich ganz entschlossen. Bevor sie mich erwischen, muss ich so bald wie möglich Dieses "Republik der Türkei" genannte Schlachthaus verlassen. Wenn ich es bis zur Grenze schaffe, denke ich, kann mir nichts mehr passieren.

Jetzt werde ich zu unserem Haus fahren und mein Reisegepäck mitnehmen.

Ich suche den nächsten Taxistand.

"Anlegebrücke in Karaköy.", sage ich.

Ich sitze hinten. Es sind manchmal Fotos von mir in den Zeitungen erschienen. Auch mein Name ist als einer der "Gesuchten" veröffentlicht aber unter hunderten von anderen. Es ist nicht wahrscheinlich, dass der Taxifahrer mich als ein "Gesuchter" erkennt. Aber ich bin vorsichtig.

Um zu verhindern, dass er mein Gesicht studiert, sitze ich ganz gebückt und betrachte meinen Reisepass.

Karaköy. Bei der Anlegebrücke steige ich aus.

Ich gehe zu dem nächsten Staatsmonopolladen auf der gegenüber Seite und kaufe zehn Packungen Zigaretten ohne Filter, Marke "Bafra". Sie sind meine letzten "türkischen" Zigaretten.

Anlegebrücke. Bei der Kasse kaufe ich einen Jeton und gehe durch das Drehkreuz.

Das Schiff kommt. Ich sitze in der zweiten Klasse auf einer Holzbank. Ich schaue zum Boden hinunter und stütze mein Gesicht beidseitig auf meine Hände.

Ich erinnere mich an Cihan Alptekin.. Vor ein paar Monaten bin ich genauso in einem Schiff auf der Holzbank gesessen und gegenüber mir saß Cihan. Wir beide haben unsere Gesichter auf unsere Hände gestützt, zum Boden geschaut, und geflüstert.

"Cihan! Ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich will nach Europa flüchten. Ich habe aber ein schlechtes Gewissen. Ich komme mir wie ein Feigling oder Verräter vor."

Und ich habe ihm das Gespräch mit Taner Kutlay erzählt.

"Taner ist immer sehr klug gewesen.", sagt er, "Eine sehr gute Entscheidung. Die Militärdiktatur hat uns sehr unvorbereitet erwischt. An vieles haben wir noch nicht gedacht. Natürlich brauchen wir einen Botschafter in Europa. Und einen besseren als dich finden wir nicht. Du kannst gut Englisch. Du hast das Vertrauen von allen Genossen. Du brauchst kein schlechtes Gewissen haben. Im Gegenteil: Du hast eine sehr wichtige Aufgabe. Informiere die Presse dort über uns. Knüpfe Kontakte mit linken Organisationen und Parteien. Und vor allem... Wir brauchen Waffen. Schaue, wie wir zu den Waffen kommen."

Ich glaube, diese Begegnung war im April. Jetzt ist es Ende August. Ich denke an Cihan. Wo könnte er jetzt sein?

Ich habe erst viele Jahre später erfahren, dass er bereits am 31. Mai verhaftet wurde. Woher sollte ich wissen, während ich an ihn denke, dass der Cihan im Gefängnis sitzt?

Für die LeserInnen, die aus der Türkei stammen, brauche ich nicht zu erzählen, wer Cihan war. In den letzten fünfzig Jahren sind zahllose Zeitungsartikeln und einige Bücher über ihn geschrieben worden. Er wird auch für weitere Generationen ein Held des Aufstands gegen den Faschismus bleiben.

Für mich war er ein geliebter Freund, einer der Menschen, dass ich mein Leben jeder Zeit mit Vollvertrauen in ihre Hände legen könnte. Seine unglaubliche Geschichte, dass er mit einigen anderen Genossen mit Hilfe eines Stück Metalls einen langen Tunnel ausgrub und aus einem Konzentrationslager ähnlichem Gefängnis flüchtete, habe ich Jahre später im Internet gelesen.

27. März 1972, bei einer Aktion, um die zum Tode verurteilte Genossen zu retten, ist er durch Angriff der Luftwaffe und Artillerie, mit mehreren weiteren Genossen, bei dem unvergesslichen Kizildere Massaker umgebracht worden.

Lieber Cihan! Du lebst für immer in meinem Herz und in den Herzen der weiteren Generationen von Antifaschisten.

Das Schiff legt bei der Anlegebrücke von Kadiköy an. Ich steige aus. Hier gibt´s einen größeren Platz. Ich gehe ein bisschen nach rechts und dann vorwärts. Hier sind die Omnibusse. Welcher davon an die Reihe kommt, steht ganz vorne. Ich steige ein.

Wie immer warten wir, bis das Gefährt ganz voll ist. Für neun Sitzplätze nehmen wir sechszehn Fahrgäste.

In Kuyubasi steigt jemand aus. Alle bücken und drücken sich. Rechts ist eine hohe Mauer. Dahinter ist ein Tannenwald. Dahinter sieht man nichts, aber ich weiß, das dort ein zweistöckiges Holzschloss steht.

Links ist eine sehr große Trauerweide. Dahinter ist ein zweistöckiges Haus. Hier wohnt die Schwester von meinem Vater. Ihren Mann nannte ich "Dede" (=Opa). Er starb vor zwei Jahren.

Wir fahren weiter.

Sahra-i Cedid. Hier steige ich aus.

Der Omnibus biegt nach rechts und fährt auf der Ethem-Efendi-Straße weiter. Er wird noch sehr lange fahren, bis zum Bezirk Kartal. Wir sind bis hier auf der Üsküdar-Weg-Straße gefahren. Tatsächlich geht diese Straße sehr weit, über Haydarpasa bis Üsküdar. In Haydarpasa bin ich eineinhalb Jahre ins Gymnasium gegangen, dann bekam ich ein "Weiterrbildungsverbot".

Ich gehe auf der Üsküdar-Weg-Straße zu Fuß weiter. Ich hoffe, niemanden zu begegnen. Und ich habe Glück: Nicht einmal die streunenden Hunde zeigen sich.

Nach etwa dreihundert Meter nach links gebogen, komme ich in die Riza-Bey-Gasse. Hier ist unser einstöckiges Haus in einem kleinen Garten.

Die Tür ist offen. Zuerst kommt mein kleiner Bruder, dann meine Schwester, dann meine Mutter und mein Vater. Ich küsse alle.

Dann sagt mein Vater:

"Die Leute, die in Europa arbeiten, kommen im Sommer zurück zum Urlaub. Bei der Ein- und Ausreise haben sie immer wieder mit den Zollbeamten zu tun. Wie ich nach Istanbul zurück kam, habe ich mein altes Amtshaus und die Kollegen dort besucht und gefragt, ob sie jemanden kennen, der nach Hamburg fahren wird. Sie haben Stunden lang herum telefoniert und haben einen Tataren gfunden, der heute mit seiner Familie direkt nach Hamburg fährt. Er wird gegenüber der Anlege brücke in Karaköy auf dich warten."

"Wie soll ich ihn erkennen?"

"Ganz einfach: Der Kaiser von Japan wird heute sicher nicht in Karaköy anwesend sein."

"Was ist, wenn er nicht länger warten will und weiterfährt?"

"In einer Diktatur wagt sich kein Reisender, Staatsbeamten zu verärgern. Pack jetzt deinen Koffer ein und fahre!"

In dem Vorzimmer nach links ist eine schmale Holztreppe. Ich steige hinauf. Ich lebe in einem Mansardenzimmer im Dach. Jetzt bin ich in meinem Zimmer.

In meiner Abwesenheit ist das Haus mehrmals untersucht worden. Die Soldaten haben meine Matratze mit Bajonetten durchgestochen. Haben sie darunter mich vermutet? Oder suchten sie in der Matratze versteckte verbotene Bücher?

Die Löcher sind noch immer da. Ich bin froh, dass ich damals nicht im Bett lag. Meine Mutter hat auf dem Bett ein frisches Leintuch gespannt.

Jetzt liegt mein aufgeklappter Koffer auf meinem Bett.

Ich habe meinen Hochzeitsanzug angezogen. Er ist ganz neu und maßgeschneidert. Er wird an den Grenzen einen guten Einduck machen.

Ich muss meinen Koffer schnell packen. In den Koffer lege ich vier Paar Socken, zwei weiße Hemden, zwei Hosen aus hellbraunen Cordsamt. Cordsamthosen und Parkas waren quasi Uniformen der"Revolutionären Jugend". Meinen Parka nehme ich nicht mit. An der Grenze könnte das auffällig werden. Dafür nehme ich aber zwei Stück von meiner Mutter gestrickte wunderschöne Wollpullover.

Darauf lege ich meine letzten "türkischen" Zigaretten.

Ganz oben lege ich meinen sehr schönen dunkelblauen Alpaka-Mantel. Mein Vater hat ihn für mich von einem britischen Kapitän um teures Geld gekauft. Woher sollte ich wissen, dass ich diesen schweren Mantel in meinem Koffer umsonst durch die halbe Welt schleppen werde?

Die traurigen Geschichte von meinem Mantel werde ich später erzählen.

Habe ich etwas vergessen, dass ich auf dem Schiff vermissen werde?

Egal! Ich muss mich beeilen. Ich kann jederzeit bei der letzten Fluchtetappe erwischt werden.

Jetzt mache ich einen großen Ballen aus Tageszeitungen des letzten Jahres. Ich muss nachweisen können, wenn ich im Ausland etwas behaupte. Wie soll ich das tun, ohne die Tageszeitungen aus der Türkei?

Papier ist ziemlich schwer. Auch diese Zeitungen habe ich mein ganzes Leben durch die Weltgeschichte geschleppt. Sie nehmen jetzt in meinem sehr kleinen letzten Haus Platz und werden mich überleben, bis die neuen Bewohner sie ins Altpaper tragen.

Mein letzter Gedichtband war ein Bestseller. Er wurde verboten. Die Buchhändler verkauften ihn trotzdem in der Schublade. Ich möchte ein Exemplar mitnehmen. Nein, das kann ich nicht in den Koffer geben. Ich hole das Bügeleisen von meiner Mutter. Ich falte das dünne Taschenbuch viermal und bügele es heiß, bis es ganz flach wird. Jetzt passt es in meinen rechten Schuh. Ich trete mit meiner Ferse darauf. Jetzt ist mein rechtes Bein zwei Zentimeter länger als das linke. Ich laufe eine Weile im Kreis und übe unauffällig zu gehen. In den kommenden Tagen werde ich mit diesem belastenden Schuh gehen. Erst in Österreich habe ich das Buch herausgenommen und in meinen Koffer gesteckt. Es hat ein kleines Loch in der Mitte bekommen, aber man kann es noch lesen.

Jetzt nehme ich als letztes noch mein "Saz" (=Langhalslaute). Es ist ein sehr gut gemachtes Meisterstück und hat einen sehr guten Klang. Durch das Resonanzloch sieht man drinnen einen Stempel: Gebrüder Tekeli, Tekirdag".

Ich schaue noch einmal herum, ob ich etwas vergessen habe. Dann gehe ich die Holztreppe mit meiner schweren Last langsam hinunter.

Ich küsse alle noch einmal und verabschiede mich.

Meine Mutter weint und macht ziemlich Radau: "Du gehst nirgendshin! Du bleibst hier!"

Nach dem sie nicht mehr aufhört, sagt mein Vater: "Frau! Bitte schweig!". Darauf ist sie wieder ruhig.

Ich kann mein gesamtes Gepäck nicht auf einmal tragen. Ich nehme den schweren Zeitungsball in die rechte und das Saz in die linke Hand. Mein Vater nimmt meinen Koffer.

Wir gehen durch die Gartentür hinaus. Nach ein paar Schritten drehe ich mich um. Ich ahne, dass ich diese vertraute kleine Welt niemals wiedersehen werde.

Ich schaue das letzte mal zurück.

Links am Ende der niedrigen Gartenmauer ist ein Walnussbaum. Der war bereits da, bevor unser Haus gebaut wurde. Er ist jetzt fast in die Mauer gewachsen. Er trägt wenige Nüsse und diese essen die Passanten bevor wir es tun.

Hinter der Gartenmauer auf der linken Seite ist ein Tannenbaum. Wie mein Vater ihn gepflanzt hat, war er kleiner als ich. Voriges Jahr bin ich im Sommer in seinem Schatten gesessen und habe mit meiner klappbaren Schreibmaschine ein Buch geschrieben.

Auf der rechten Seite bedecken die Mauer die gelieben Heckenrosen meines Vaters. Dahinter ist eine große Trauerweide. Darunter ist auch der Brunnen.

Dahinter ist unser Haus. Nach ein paar Treppen kommt man auf die Terasse. Links und rechts auf der Treppe sind die Blumentöpfe, besser gesagt Margarinebehälter aus Blech von meiner Mutter mit prächtigen Blüten.

Auf der Terasse sind ein Esstisch und einige Stühle. Viele namhafte Persönlichkeiten von der linken Politik und der Kunst der Zeit haben hier mit mir und meinem Vater ein Glas getrunken.

Auf dem Dach fällt meine Mansarde mit einem Balkon wie ein Adflernest auf.

Hinter dem Dach sehe ich zwei riesige Bäume. Links ist ein Birnenbaum. Das ist der einzige Obstbaum in der Gegend, dessen beschneite Früchte man im Winter pflückt. Wenn ich in die Volkschule ging, brachte mein Vater mir ein britisches Malbuch. drinnen pflückten die Kinder Äpfel. Gibt es Birnen in Hamburg? Keine Ahnung.

Rechts ist der Maulbeerbaum mit honigsüßen Beeren. Jeden Sommer breitete meine Mutter ein Bettlacken darunter. Ich stieg auf den Baum und schüttelte die Äste. Diesen Sommer aber waren wir in Mersin.

Ich präge alles sorgfältig in meinem Gedächtnis ein, damit ich es nach Hamburg mitnehme.

"Beeil dich!", sagt mein Vater und ich trenne mich von einem Stück Leben.

Wir hatten in diesem Haus einen Telefonanschluss. An unsere Telefonnummer erinnere ich noch immer: 55 58 76.

Sobald wir das Haus verlassen haben, sagt meiner Mutter zu meiner Schwester: "Wenn er weg ist, sehen wir ihn nicht mehr. Wenn er verhaftet wird, können wir ihn immer wieder im Gefängnis besuchen."

Und sie ruft den Polizei Notruf an. Aber der Vogel war schon weggeflogen.

Ich und mein Vater gehen weiter Richtung Sahra-i Cedid. Die breite Straße ist wieder ganz leer. Wir gehen nebeneinander weiter und schweigen.

Plötzlich merke ich, dass ich laufe und mein keuchender Vater hinter mir bleibt.

Sicher will ich so schnell wie möglich diese Hölle verlassen. Aber meine Eile ist nicht deswegen. Die Trennung von meiner Mutter und meinen Geschwister hat Weh getan. Auch die Trennung von unserem Haus. Die Trennung von meinem Vater wird noch einmal Weh tun. Ich will diesen Schmerz möglichst schnell hinter mir lassen.

Ich halte an. Mein Vater kommt neben mich. Wir gehen weiter.

Kreuzung von Sahra- i Cedid. Links von uns ist das große Teehaus mit der großen Terasse vorne. Die Terasse ist voll mit Männern. Jemand könnte mich erkennen. Wir bleiben auf der rechten Seite.

Wir biegen nach rechts und bleiben an der Ecke stehen. Wir stellen unsere Last auf den Boden.

Wenn man diese Straße nach rechts weiter geht, kommt der Friedhof von Sahra-i Cedid. Dort liegt die Mutter meines Vaters.

Gegenüber uns ist die Moschee von Sahra-i Cedid.


Brunnen vor der Moschee von Sahra-i Cedid
 

 

Vor der Moschee ist der Brunnen. In meiner Kindheit habe ich öfters von hier Trinkwasser in Ölkanistern abgeholt.

Vor uns läuft die Hauptstraße bis Üsküdar. Auf der linken Seite gegenüber uns ist die "Mobiloil"-Tankstelle. Weiter links davon ist das Geschäft von Schuster Ali. Jeden Tag um fünfzehn Uhr gab er hier ein Saz-Konzert für die BesucherInnen und sang Alevitische Hymnen.

Mein Gedächtnis fotografiert alles sehr scharf und ohne Filter.

Mein Vater steckt seine Geldbörse von der Innentasche seines Jacketts aus und gibt mir einen tausend Lira-Schein.

"Leider kann ich dir nicht mehr geben. Ich habe noch zwei Kinder. Auch sie werden studieren."

Nach einer kurzen Pause sagt er:

"Sobald du dein Matrosengehalt bekommst, schick das Geld zurück. Das gehört deinen Geschwistern."

Danach sagt er: "Die Völker dieses Landes werden dich und deine Freunde nicht vergessen. Ich bin stolz auf dich!"

Ich bücke mich und will seine Hand küssen. Er richtet mich auf und schüttelt meine Hand ganz kräftig. Ich halte und beobachte weiter seine rechte Hand. Auf einmal tropft etwas auf unsere Hände. Ich hebe meinen Kopf auf.

Mein Vater weint. Diesmal unversteckt. Das ist das zweite Mal, dass ich ihn weinen sehe. Ich weine nicht. Wie versteinert schaue ich auf sein Gesicht. Die Tränen laufen von seinen Wangen hinunter.

Ich umarme seinen schlanken Körper. Lass ihn ein paar Minuten weinen. Dann packe ich mein Gepäck und gehe zu der Omnibus-Haltestelle vor dem Teehaus.

Ich habe Genosse Direktor nie wiedergesehen.

 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017