Der Lohnzettel

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DER LOHNZETTEL

 

30. September. Auf Wunsch von Stephan habe ich heute meinen türkischen Reisepass mitgebracht.

Stephan kommt. Nimmt meinen Reisepass und geht weg.

Nach etwa einer halben Stunde kommt er wieder zurück. Ich unterschreibe einen Zettel. Er gibt mir ein hellblaues Kuvert.

"Mein Reisepass?"

"Pass bleibt hier."

Ich habe meinen Pass nicht mehr zurückbekommen.

In Deutschland sind die Löhne höher. Außerdem ist der Schilling weniger wert wie die türkische Lira. Eine deutsche Mark kostet mehr als vier Lira. Daher wollen alle Arbeiter aus der Türkei nach Deutschland weitergehen. Die Firmen in Lustenau halten ihre Pässe als Pfand und geben sie erst nach einem Jahr Zwangsarbeit zurück.

Wie soll das bei mir funktionieren? Ende des Jahres läuft mein Pass ab. Die türkische Botschaft wird ihn sicher nicht verlängern. Außerdem will ich sicher nicht ein ganzes Jahr hierbleiben.

Im Kuvert ist Geld. Ich zähle. 1665 Schilling und 35 Groschen.

Ich habe bereits 1500 Schilling Vorschuss erhalten. Also 3165 Schilling für ein Monat.

Im Kuvert ist auch ein gefalteter Zettel. Ich falte ihn auseinander.

Ganz oben steht "Lohnzettel".

Mein Name ist richtig geschrieben. Sie haben auch meine geleisteten Arbeitsstunden zusammengerechnet. Also, darum die Stempelkarte.

Ich habe nicht erwartet, dass sie alles bis zum Groschen genau rechnen.

Auf jeden Fall ist das sehr viel Geld. Mit diesem Monatslohn könnte in der Türkei eine ganze Familie sehr gut leben.

Aber hier? Es ist alles mindestens fünf bis sechs Mal teurer als in der Türkei.

Also wenn man hier Geld erspart, kann man später in der Türkei gut leben. Aber wie soll man in diesem teurem Land Geld sparen? Meine Landsleute fressen nur Kartoffeln und trinken kein Bier. Ich will aber nicht wie sie leben.

Bekommen die einheimischen Arbeiter die gleiche Bezahlung wie wir Ausländer? Ich traue mich nicht, jemanden zu fragen.

Luigi und Milan verdienen sicher besser. Sie sind ja Fachleute. Soll ich sie fragen? Ich traue mich nicht.

Ich studiere den Lohnzettel durch. Anscheinend gibt's hier viele Abzüge. Was bedeutet das?

Leberkäse-Pause.

Ich verzichte auf ein Bier und klettere die Treppe nach oben. In der Mansarde ist das Chefzimmer. Dahinter ist Ott Julius.

Ich habe noch nie einen europäischen Kapitalisten persönlich getroffen. Wie schaut so ein Monster aus?

Hat er einen Zylinderhut? Er ist sicher sehr dick. Vielleicht trägt er seinen riesigen Bauch in einer goldenen Scheibtruhe. Raucht er Zigarren?

Ein junger Mensch kann genügend Kapital für so eine Fabrik nicht zusammenbringen. Er ist sicher über fünfzig.



 


 

Ich klopfe an die Tür.

"Herein!"

Ich mache die Tür auf und gehe in die Höhle des Löwen hinein.

Gegenüber mir sitzt ein junger Mann hinter einem großen Schreibtisch. Er hat ein weißes Hemd, keine Krawatte, eine blaue Jeanshose. Hinter ihm sind Regale mit irgendwelchen Ordnern. Auf dem Tisch sind ein Telefonapparat und eine Schreibmaschine. Das einzig auffällige sind seine Schuhe. Sie liegen auf dem Tisch neben der Schreibmaschine.

Mir fällt plötzlich ein: Vor einigen Jahren war ich Mitglied in der "Sozialistische Ideen Clubs Föderation." Das war Vorgänger der "Revolutionäre Jugend". Wir hatten einen kleinen Raum in der Hauptuni.

Wenn wir dort saßen und diskutierten und jemand in den Raum neu eintritt, standen wir von den Sesseln auf als Zeichen des Respekts vor der Begrüßung.

So bin ich sozialisiert. Das war aber auch sonst im ganzen Land die Sitte.

Später habe ich in Wien andere Erfahrungen gehabt. Unter den linken Studenten waren nicht Begrüßen, die Schuhe auf dem Tisch halten oder andere Unfreundlichkeiten als links, oder fortschrittlich gesehen, weil sie als Protest gegen Konventionen der autoritären Nazi-Generation gelten.

Ob Ott Julius Körperhaltung für ihn selbst irgendetwas bedeutete und was, weiß ich nicht.

Auf jeden Fall verstand ich es damals als Verachtung der Arbeiterschaft, Überheblichkeit, Menschenverachtung. Ich könnte das niemals akzeptieren.

Ott Julius ist ohne Bart, höchstens ein paar Jahre älter und genauso schlank wie ich.

Wie ich in den Raum hinein gehe, taucht neben mir ein älterer Landsmann auf und schleicht sich hinein.

Vor dem Tisch sind zwei Sesseln. Mein Landsmann steht neben dem rechten Sessel mit geneigtem Kopf und faltet seine Hände auf seinem Bauch.

Das ist die Haltung der Untertanen aus altosmanischer Zeit.

Ohne auf die Einladung zu warten, setze ich mich auf den linken Sessel.

Nur, ich fühle mich nicht glücklich, wenn ich vor meiner Nase zwei Schuhsohlen sehe.

Ich hebe meine Beine hoch und stelle meine Schuhe neben seine.

Mein Landsmann sagt in Türkisch "Er ist der Boss. Das darfst du nicht machen."

Ich finde den unterwürfigen Knecht nicht einer Antwort würdig.

Ich schaue dem Klassenfeind in die Augen. Auch er schaut mir in die Augen. Ohne ein Wort, in Stille, aber in einer eigenartigen Spannung.

Nach einer Weile stößt er einen Seufzer aus und nimmt seine Füße hinunter. Sofort tue auch ich das.

"Can I speak enghlish, sir?"

"No problem."

"What is Lohnsteuer?"

"The tax."

"What is Krankenkasse?"

"Health insurance."

"I am healthy and jung. I don`t need it."

"That is a legal obligation."

"What is Gewerkschatfsbeitrag?"

"That is Labor union. Union contribution."

In der Türkei wollen die Kapitalisten nicht, dass die Arbeiter in Gewerkschaften organisiert sind. Wenn sie erfahren, dass jemand Gewerkschaftsmitglied ist, kündigen sie ihn. Dann gibt's immer wieder diesbezügliche Streiks. Dessen Erfolg ist aber davon abhängig, wieviel Arbeiter bereits organisiert sind.

Jetzt bin ich automatisch ein Mitglied in einer Gewerkschaft. In welcher? Ich muss diese Sozialdemokratie weiter studieren. Aber es ist wichtig für mich zu wissen, dass ich Mitglied von einer Gewerkschaft bin. Vielleicht brauche ich einmal Hilfe.

"Do you have any further questions?"

"No. Thank you very much, sir."

Mein Klassenfeind ist mir fast sympathischer als mein unterwürfiger Landsmann und Klassenkamerad.

Kann das bedeuten, dass die gebildeten Klassenfeinde mir angenehmer als die ungebildeten Klassenkameraden sind? Ob ich will oder nicht, werde ich immer nicht ein Proletarier, sondern ein kleinbürgerlicher Intellektueller bleiben? Auch während ich in einer Fabrik als Arbeiter tätig bin?

Nur, wir, mehrere hundert Arbeiter schaufeln jeden Tag Geld in seinen Tresor. Was macht er mit dem ganzen Geld? Wie kann man so viel Geld in Lustenau ausgeben?

Ich habe Probleme, die mir bis zum Hals reichen. Ist er wegen seinem Geld glücklicher als ich?



 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017