Kindertante

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
KINDERTANTE

 

Wenn ich die Reichstraße vor dem Gasthaus nach links überquere, ist eine schmale, nicht asphaltierte Straße. Nach fünfzig Metern kommt ein kleiner Wald.

Es ist Nachmittag. Obwohl ich sehr müde bin, verzichte ich auf Schlaf und will im Wald bisschen frische Luft schnappen.

Kaum bin ich im Wald, erscheint plötzlich mir gegenüber Daphne auf dem Fahrrad. Sie springt herunter, winkt mir zu und kommt weiter zu Fuß. Sie schleppt ihr Fahrrad mit und bleibt vor mir stehen.

Wir begrüßen uns.

Ihre Hand hält die Lenkstange.

Ich sammle meinen gesamten Mut zusammen und lege meine Hand knapp vor ihre, so dass dazwischen nicht einmal ein halber Zentimeter Abstand bleibt.

Kommende paar Minuten zählen zu den Momenten meines Lebens, die ich niemals vergessen kann. Die Bedeutung dieser kurzen Zeitspanne beruht nicht auf den Ereignissen, die sich damals abspielten, sondern darauf, was da alles nicht geschah.

Und das hat mit einer mir sehr eigenen Eigenschaft zu tun:

Ich bin niemals abgelehnt worden. Weil ich nie etwas verlangt habe. Das heißt nicht, dass ich von anderen Menschen niemals was erwünscht oder gehofft habe. Ich habe das nur niemals verlangt.

Ein Mauerblümchen war ich auch sicher nicht. Im Gegenteil: Ich war sogar ziemlich narzisstisch und ich bin ein Bühnenmensch geworden.

Ich habe mich demonstrativ gezeigt. Mir war auch die Schönheit meiner Stimme bekannt. Ich habe mir gerne selbst zugehört und auch hören lassen. Dann habe ich gewartet, dass ich ein Angebot bekomme.

Aber niemals kam eine Initiative von mir.

Was wäre, wenn ich einmal abgelehnt werden sollte? Weiß ich nicht, weil das nie passiert ist. Nur die Angst vor der Vorstellung, dass ich abgelehnt werde, war größer als die Angst vor dem Tod.

Ob das mit meiner Kindheit zu tun hatte? Kann ich nicht sagen.

So stellte ich meine Hand zu ihrer Verfügung und wartete. Ich könnte mein Hand auf ihre legen. Nein. Solange ich ich war, würde ich das niemals tun. Aber sie hatte die Möglichkeit.

Mein ganzer Körper zittert. Meine Hand auf dem Fahrrad zittert. Das Fahrrad zittert.

Ich warte darauf, dass mein Herz sich aus seinem Gehäuse befreit und aus meinem Mund hinausfliegt.

Warum ist dann dieser Moment unvergesslich? Weil das ein Wendepunkt im Lebenslauf von zwei jungen Menschen sein könnte.

Wenn sie ihre Hand auf meine gelegt hätte… Ich hätte ihre Hand in meine genommen und fest gehalten. Dann würde das Fahrrad hinunterfallen. Wir würden auch hinunterfallen, auf oder unter das Fahrrad.

Dann würden wir uns in den Wald zurückziehen.

Dann hätten wir ein Baby. Dann würden mich meine Genossen zurückpfeifen. Dann wäre ich jetzt lange Zeit tot.

Oder es hieße das Gasthaus Schwanen später "Das wilde Kurdistan".

Oder würde ich sie nach Wien entführen, sie würde an der Akademie der Bildenden Künste studieren und wäre jetzt ein eine altwürdige Malerin.

Oder würde sie mir eine kräftige Watschen austeilen.

Heute weiß ich, dass sie das niemals tun würde.

Aber was ist heute? Heute könnte ich mit meinen verrückten Geschichten meine Enkelkinder langweilen. Weil es sie nicht gibt, schreibe ich meine Erinnerungen. Ohne zu wissen, wenn dann, wer sie lesen wird.

Ich nehme meine Hand nicht hinunter und warte, dass etwas geschieht. Sie fragt nicht einmal, warum ich das Fahrrad zum Dauerzittern bringe.

"Woher kommst du?", frage ich und habe große Angst, dass sie sagen wird "Von meinem Freund".
"Ich komme vom Kindergarten.", sagt sie.

"Kinder" verstehe ich. "Garten" auch. Aber was ist ein Kindergarten?


 


Garten

 

Ich stelle mir einen kleinen Garten vor, mit Blumenbeeten, ein paar Apfelbäume mit roten Äpfeln darauf und darunter einige Kinder im Reigen tanzend. Hat Daphne Kinder?

"Was machst du im Kindergarten?", frage ich.

"Ich bin Kindertante.", sagt sie.

Ist sie Tante von irgendwelchen Neffen oder Nichten?

"Ich bringe meine Kinder zu dir. Du kannst sie kennenlernen.", sagt sie.

"Jetzt muss ich aber weiter nach Hause. Ich muss weiterarbeiten."

Ich habe sie ihrer Freiheit beraubt. Ich nehme meine Hand sofort weg. Sie fährt weiter. Ich schaue ihr von hinten nach.

Der Traum ist vorbei. Die Feh ist weg.

Solange ich lebe, werde ich diesen Moment nicht vergessen, wo nichts passiert ist.




 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017