Mein einziger Jünger

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
MEIN EINZIGER JÜNGER

 

Gerade bin ich beim Überlegen von hier weg zu gehen, kommt ein Junge auf mich zu. Er ist in meinem Alter, ohne Schnurrbart, dunkelblond und blauäugig. Er ist mir vorher aufgefallen und ich habe mich gefragt, was ein Lustenauer zwischen uns macht.

"Merhaba!", sagt er. "Ich heiße Ismail. Hier nennen mich alle Laz Ismail."

Aus seinem Dialekt ist es sofort erkenntlich, dass er ein Laz ist. Lazen sind ein Volk, das auf der Nordostküste Anatolias, am Schwarzen Meer lebt.

"Merhaba!", sage ich. "Ich heiße Memo."

"Ich wollte mir anschauen, wie du ausschaust.", sagt er.

"Wie bitte?"

"Die Männer fürchten sich vor dir. Ich habe mir gedacht, vielleicht hast du Hörner, oder so etwas. Du schaust aber sehr hübsch aus."

"Danke!", sage ich.

"Die Männer sagen, du bist ein Gominis, stimmt das?"

"Kommunist, meinst du?"

"Ja, so etwas."

"Es stimmt.", sage ich. "Ich bin Kommunist."

"Was ist Gominis?", fragt er.

Ich bin seit Jahren mit Propaganda und Agitation beschäftigt. So eine Frage ist mir nie begegnet. Was soll ich sagen?

"Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft.", sage ich. "Hier gibt es arme und reiche Menschen. Kommunisten wollen eine kommunistische Gesellschaft, dort gibt es keine armen Menschen."

"Klingt gut, aber leicht zu verstehen ist es nicht."

"Kannst du lesen?", frage ich.

"Ein bisschen.", sagt er. "Ich bin in die Schule gegangen. Zeitung lesen kann ich aber nicht. Ich habe noch nie ein Buch gelesen."

"Wo arbeitest du?"

"Ot Yunus."

"Ich auch.", sage ich. "Bei der Strickerei Maschine."

"Ich bin bei der Färberei-Abteilung."

"Gibt es auch noch? Wieviel Abteilungen sind dort?"

"Das weiß ich nicht, aber sicher viele."

"Hast du Pausen? Kannst du mich besuchen?"

"Ich habe öfters Pausen. In der Färberei stinkt es fürchterlich. Wie Essig. Sehr scharf. Wir machen öfters Pausen."

"Ich bin in der Strickerei. Wenn du durch gehst, letzte Maschine vor dem Fenster."

"Ich werde dich besuchen. Dann erzähl mir mehr über die Gominis-Gesellschaft."

Laz Ismail war mein einziger, dafür aber treuer Jünger in Lustenau. Ich verabschiede mich von ihm und schleiche mich auf die Rückseite des Bahnhofsgebäudes.

Wie ich zum ersten Mal nach Lustenau gekommen bin, bin ich in diesem Bahnhof ausgestiegen. Damals habe ich das von der Mauer heraussteckende Schild registriert: "Bahnhof Restaurant".

Jetzt stehe ich auf der Bahnhofplattform. Rechts von mir sind die Gleise, links von mir ist das Bahnhofsgebäude. Das Restaurant ist ein kleines Lokal neben dem Wartesaal.

Das Wetter ist nach wie vor sommerlich. Ich glaube, Herbst 1971 war mein wärmster Herbst in Österreich. Das war wie der Sommer in Istanbul. In Istanbul regnet es immer wieder im Herbst. Und es gibt sehr oft Nebel. Hier strahlt jeden Tag die Sonne. Vielleicht bin ich deswegen so lange hiergeblieben. Also versuche ich nicht in den dunklen Laden hineinzugehen.

Auf dem Betonboden sind vier kleine Tische und bei jedem vier Sesseln aufgestellt. Sogar steht bei jedem Tisch ein Sonnenschirm.

An zwei Tischen sitzen jeweils ein alter Mann und nippen aus kleinen Gläsern Wein. Ich begrüße die Anwesenden mit einem Kopfnicken. Sie schauen mich so an wie wenn ich aus Luft bestehe.

In einem Weinhaus in Istanbul würden sie nicht allein sitzen und miteinander lautstark sprechen. Diese Männer hier aber schauen nicht einmal einander an.

Ich setze mich an einem der freien Tische.

Auf dem Tisch steht ein vernickeltes Gestell. Drinnen sind zwei kleine Glasgefäße. Salz und Pfeffer. Die Gefäße kenne ich aus der Türkei. Auch dort gibt es gleiche, Aber das Gestell kenne ich nicht. In der Mitte ist eine Art Halterung, worin eine kleine Speisekarte befestigt ist. Ich hole mir diese Karte. Darauf sind etwa zehn Speisen aufgelistet. Trotz langzeitiger Betrachtung verstehe ich nicht, was diese Bezeichnungen bedeuten.

Eine einzige davon ist für mich verständlich:
"Hamm and Eggs."

Ein Kellner kommt. Ich sage:
"Good afternoon!"

Er murmelt irgendetwas, was ich nicht verstehe, aber lächelt immerhin freundlich.

Ich bestelle das einzig mir vorstellbare Gericht und Bier.

Nach einigen Minuten kommt das Essen ganz heiß in einer Spiegeleierpfanne. Dazu zwei Semmeln und ein Glas Bier, in einem sehr großen Glas, welches in der türkischen Gastronomie nicht anzutreffen ist.

Nach tagelanger Leberkässemmel Diät schmecken Spiegeleier mit Speck wie eine Götterspeise. Ich schlinge alles in größter Geschwindigkeit hinunter und könnte mindestens fünf Mal noch das gleiche bestellen. Aber das Geld neigt sich langsam zu Ende.

Der Kellner kommt. Ich bezahle. Ich weiß nicht, ob man hier Trinkgeld gibt. Wenn dann, wie viel. Ich bezahle.

Dann lege ich zwei Schillinge auf den Tisch und schiebe zu seiner Richtung. Er nimmt das Geld und sagt: "Danke!"

Ich bleibe weiter dort und trinke langsam mein Bier. Dazu zünde ich mir eine Zigarette an.

Ich habe noch immer für mich angenehme Zigarettenmarke nicht gefunden. Stuyvesant ist halbwegs erträglich. Jetzt rauche ich Parisien.

Den Tabak in diesen Zigaretten kenne ich aus der Türkei. Das ist Virginia-Blond. Dessen Anbaugebiet ist die Hochebene in der kurdischen Provinz Musch. Ich war einige Male dort.

Tabak gehört zum Staatsmonopol. Die Bauern müssen ihre Ernte an den Staat verkaufen. Privat dürfen sie keinen Tabak verkaufen, aber Tabak wird als Schmuggelware verkauft. Es gibt auch kein Zigarettenpapier in der Türkei. Das wird aus Syrien geschmuggelt.

Der Staat bezahlt für Tabak jedes Jahr weniger Geld. Das ist zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Die Bauern demonstrieren. Dann kommen die Gendarmerie und Polizei.

Auf jeden Fall, ich liebe den Tabak von Musch, vor allem wegen seinem Aroma. Ich habe das gut vertragen. Das hatte aber eine natürliche Feuchtigkeit. Der Tabak in Parisien ist trocken wie Heu. Er brennt viel schneller. Also das ist für mich viel zu stark.

Ich trinke mein Bier bis zum letzten Tropfen. Dann gehe ich ohne Abschied zu nehmen einfach weg.


 


 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017