Furolaylar

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
FUROLAYLAR

 

06. 09. 1971, Sonntag


Im folgenden Kapitel geht's um "Furolaylar". In der speziellen Sprache Türkisch-Deutsch deckt sich die Bezeichnung "Furolay" mit dem Wort "Fräulein". "-lar" ist das Mehrzahlsuffix.

Auf einmal komplettiert sich die ursprüngliche Reihe und es stehen alle Männer stramm wie bei einer Musterung.

Was ist los? Kommt ein türkischer Pascha vorbei?

Plötzlich erscheint auf dem sichtbaren Ende der Straße auf meiner linken Seite eine junge Frau auf einem Fahrrad. Gleich hinter ihr kommt noch eine Frau, ebenfalls auf einem Fahrrad.

Dann kommen mehrere Frauen nebeneinander. Dann kommen weitere. Die Parade hört nicht mehr auf.

Alle Frauen haben Miniröcke an. Damals waren die Miniröcke auch in der Türkei Mode, aber so viele nackte Frauenbeine habe ich noch nie auf einmal gesehen.

Außer am 19. Mai. Am 19. Mai 1919 gab Atatürk den Befehl, die seit der Antike in Nord Anatolia, an der Küste des Schwarzen Meeres angesiedelten Pontus Griechen komplett auszulöschen. So wurden mehr als dreihundertfünfzigtausend Männer, Frauen und Kinder binnen kürzester Zeit mit brutalsten Methoden umgebracht.

Atatürk "schenkte" den neunzehnten Mai, den Beginn des Genozids, an die "türkische Jugend" als Feiertag. An diesem Tag werden auf öffentlichen Plätzen große Paraden abgehalten. In Begleitung der Militärkapellen marschieren nicht nur Soldaten, sondern auch die Schüler und Schülerinnen in Fantasieuniformen.

Da kann man nackte Beine der hunderten Schülerinnen in Tutus bewundern. Nur, das waren die vierzehn- oder fünfzehnjährigen Kinder und sie hatten auf mich keine erotische Wirkung.

Diese hier sind aber "heiratsmäßige Dirndln". Dünne, dicke, kleine große, blonde, brünette, rothaarige, keine schwarzhaarigen. Alle in Miniröcken…

Wie viele? Ich habe nicht gezählt aber schätze ich etwa dreißig.

Es ist keine Rennfahrt, sie fahren sehr gemächlich. Warum fahren sie vor dem Bahnhof?

Anscheinend fahren sie hier nur vorbei. Sie machen danach eine weite Runde.

Nach einer Weile sind alle weg. Aber mit Abstand kommt jetzt eine sehr alte Frau vorbei.

Sie sitzt auf dem Sattel majestätisch wie ein indischer Radja auf einem Thron auf einem Elefanten. Ihr Gesicht voll mit tiefen Falten. Sie hielt die Lenkstange nur mit ihrer linken Hand. In der rechten Hand ist eine dicke Havanna wie beim Che Guevera. Sie zieht immer wieder einen Zug ein und Rauch kommt aus ihrem Mund wie ein Fabriksschlot.

In diesem Ort so ein Unikat habe ich nicht erwartet.

Wie alle Japaner für die Europäer "gleich" ausschauen, bis dahin schauen alle Lustenauer für mich gleich aus. Blond, dunkelblond, brünett… Auch wenn ich Ausnahmen registriert habe, die schwarzhaarige sind entweder Jugoslawen oder Türken. Diejenigen davon, die eine hellbraune Baumwollhose haben und auf der Oberlippe eine China Borste tragen, sind Türken.

Und die Lustenauer haben keine Emotionen, keine Gefühle. Damals dachte ich nicht daran, obwohl ich Internationalist bin, auch ich versuchte instinktiv, vor diesen Fremden keine Gefühle zu zeigen.
Einzige Ausnahme sind die alten Frauen. Sie lächeln mich an, bemühen sich, mit mir zu reden, wirken auf mich wie ganz "normale" Menschen. Kommen sie von einem anderen Planeten?

Ich beobachte die spärlichen Geschehnisse hinter dem Bahnhof genau, ohne daran zu denken, dass ich meine Eindrücke nach fünfzig Jahren niederschreiben werde.

Inzwischen sind etwa zwanzig Minuten vergangen.

Von der linken Seite der Straße taucht wieder eine Radlerin auf. Und sie wir von weiteren Frauen gefolgt.

Auf einmal stehen wir alle wie die Bleisoldaten stramm und beobachten die Parade mit offenen Mäulern.

Die Parade geht gemächlich weiter. Nach einigen Minuten beginnt einer von unserer Reihe demonstrativ zu klatschen. Und schreit ganz laut: "Bacak dünnasi! (=Beine-Welt)". Er klatscht weiter, dreht sich um die eigene Achse, und schreit immer wieder: "Bacak dünnasi!

Nach einigen Minuten ist die Parade vorbei. Mit Abstand kommt wieder die sehr alte Frau mit ihrer Zigarre. Sie benimmt sich wie eine Kaiserin. Ich bin sehr neugierig, wer sie ist. Soll ich sie anhalten? Sie kann sicher nicht Englisch, und ich kann nicht Deutsch. Ich will sie nicht belästigen.

Ich will wissen, wer dieser junge Mann ist, der die Parade so bejubelte? Er steht nach ein paar Leuten von mir links, in derselben Reihe. Ich gehe zu ihm.

Er ist dreißig Jahre alt, schätze ich. Er ist einen Kopf kleiner als ich und hat ein breites Gesicht mit obligatorischem Oberlippenbart. Seine Bauernhaut ist sonnengebrannt.

"Schöne Frauen, oder?", frage ich.

"Sünde!", sagt er.

"Was ist Sünde?"

"Sünde für die Frauen, dass sie so nackt herumgehen. Auch Sünde für mich. Ich sollte zum Boden schauen. Außerdem bin ich verheiratet."

Er spricht einen für mich sehr witzig klingenden Dialekt. Ich frage:

"Von wo bist du?"

"Afyon.", sagt er.

Afyon heißt türkisch Opium. So heißt seine Provinz in West-Anatolia. Das türkische Arbeitsamt hat diese Bauern aus ganze Anatolia zusammengewürfelt und nach Lustenau geschickt.

"Ich heiße Memo.", sage ich. "Du?"

"Salih.", sagt er.

Seine Ärmel sind hochgekrempelt. Er hat große Hände und starke, schwarz behaarte Arme.
Ich denke, dass er in ein Mohnfeld besser passt als in eine Fabrik.

"Wo arbeitest du?"

"Ot Yunus.", sagt er.

"Ot" heißt türkisch "Gras" und "Yunus" "Delphin".

"Ott Julius?", frage ich.

"Richtig.", sagt er.

Türkisch-Deutsch ist eine eigene Sprache. Ich habe Jahre benötigt, bis ich sie so weit studierte, dass ich alles verstand.

"Wieso habe ich dich bis jetzt nicht gesehen?"

"Ich arbeite Morgen ab sechzehn Uhr."

"Aha! Ich acht bis sechzehn Uhr. Hast du in der letzten Zeit türkische Zeitungen gelesen?"

Salih kichert.

"Ich kann meinen Namen schreiben. Aber Zeitung lesen kann ich nicht."

"Was denkst du über die politische Situation in der Türkei?"

"Von sowas verstehe ich gar nichts. Dafür aber ernähre ich acht Mäuler!"

"Wieso acht?"

"Mein Vater und meine Mutter sind zu alt. Sie arbeiten nicht mehr. Ich habe zwei Schwestern, sie sind zu jung zum heiraten. Macht vier. Dann ich und mein Weib. Es macht sechs. Dann habe ich zwei Kinder, ein Bub und ein Mädchen. Also acht. Rechnen kann ich gut."

Salih ist sicher ein einfaches Gemüt. Aber freundlich und gutmütig.


 


 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017