Landesarbeitsamt

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
LANDESARBEITSAMT

Wir stehen vor einem Haus. Auch dieses Haus dürfte nicht besonders alt sein.

Vor dem Haus ist ein ziemlich großer Parkplatz, mit sehr wenigen geparkten Autos darauf.

Auf meinem maschingeschriebenen Zettel vom Schlossherrn steht "Landesarbeitsamt". Was das ganze bedeutet weiß ich nicht, aber das Wort "Arbeit" auf Deutsch habe ich bereits in der Türkei von der "Deutsch für Türkische Arbeiter"-Serie einer Tageszeitung gelernt.

Noch ein paar Wörter kenne ich: Deutsch, Ich, Liebe, Herr, Fräulein, Tanz, Küssen. Ich vermute, wo ich hingekommen bin.

In Istanbul gibt´s ein "Institut für Arbeit und Arbeiter zu finden". Das ist ein staatliches Amt. Wenn man als Arbeiter nach Deutschland gehen will, muss man sich dort bewerben. Freunde haben mir erzählt, dass man sich in eine Schlange stellen und mindestens eine Woche dortbleiben muss, wenn man irgendwann an die Reihe kommen will. Inzwischen schläft man auf dem Gehsteig.

Wenn man an die Reihe kommt, wird man von den Beamten wie ein herrenloser Hund behandelt. Danach kommen unendliche Fragen. Danach diverse ärztliche und polizeiliche Untersuchungen. Dann fährt man in sein Dorf zurück und wartet mindestens ein halbes Jahr, bis eine Antwort kommt.

Ich glaube, dass es sich hier um eine österreichische Version desselben Amtes handelt. Nur, vor dem Haus steht keine Schlange.

Werde ich drinnen beschimpft?

Ich lasse mein Gepäck an der Mauer angelehnt draußen und mache einen mutigen Schritt ins Haus.

Gleich nach der Tür wieder eine Portiersloge. Wieder ein Glasfenster. Wieder ein Loch in der Glasscheibe. So etwas habe ich in der Türkei nie gesehen.

Wenn ich hier länger bleiben sollte, will ich lernen, wie man ein exaktes rundes Loch in eine Glasscheibe hineinschneidet.

Ich gebe meinen Zettel mit der Adresse an den Portier. Er kommt heraus. Nach dem er festgestellt hat, dass ich ihn verbal nicht verstehe, kommt er mit mir und zeigt mir eine Tür. Er gibt mir meinen Zettel wieder zurück.

An der Wand ist wieder eine Uhr. Wenn ich um neun Uhr einen Termin habe, habe ich noch achtzehn Minuten Zeit.
Ich hole mein Gepäck hinauf und stelle es neben eine Wand. Mittlerweile weiß ich, dass Kopfnicken auch in diesem Land wirkt. Der Portier kommt nicht jedes Mal heraus, wenn ich rein und rausgehe. Wir verständigen uns gegenseitig mit einem Kopfnicken.

Ich gehe an die Wand gegenüber der Tür. Hier ist eine Holzbank aufgestellt. Mir fällt auf, dass die Bank mit einem eigenartigen Gelb-Orange lackiert ist. An der Rückenlehne sehe ich eine kleine Metallplakette und darauf eine Nummer.

Ich setze mich nieder und warte. Ein paar Männer gehen nach rechts oder links. Keine Hast.

Punkt neun Uhr klopfe ich an die Tür. Ich höre eine Männerstimme in einer unverständlichen Sprache. Ich mache die Tür auf und gehe hinein.

"Good morning, sir!", sage ich und verbeuge mich.

"Good morning!", sagt der Herr hinter einem hölzernen Schreibtisch.

Er ist ein bisschen jünger als mein Vater, glattrasiert, Sakko, weißes Hemd und Krawatte. Er könnte ein Amtskollege von meinem Vater sein. Also, schauen die Beamten überall gleich aus. Ihn könnte man aufheben und in dem früheren Zollamtshaus meines Vaters hinter einen Schreibtisch setzen. Das würde niemanden auffallen.

Nur, der Schreibtisch von meinem Vater war historisch. Der Schreibtisch hier ist neu und in derselben Farbe wie die Sitzbank draußen: Gelb-Orange. Das gilt auch für die zwei Sesseln vor dem Tisch. Der Beamte zeigt mir mit der Hand den rechten Sessel und ich setze mich nieder. Ich sehe, dass auf der Kante des Tisches eine Metallplakette mit einer Nummer darauf angebracht ist.

Auch der Sessel, worauf er sitzt, ist neu, aus Holz, und Gelb-Orange. Nur, sein Sessel hat Armlehnen.

Auch der Aktenschrank hinter ihm ist in derselben Farbe.

Was machen die Beamten? Üben ihre Pflicht aus. Was ist seine Pflicht? Ich nehme an, dass der Schlossherr ihn angerufen hat und verpflichtet, mir einen Job zu finden. Also, er wird mir einen Job finden. Ich lasse ihn in Ruhe und beobachte den Raum.

"Metall? Textil? Bau?"

"Kein Problem.", sage ich. "Am liebsten in einer Fabrik."

"Für Metall sind sie zu schmächtig.", sagt er. "Ich versuche bei der Textil".

Soll ich beleidigt sein? Ich darf nicht besonders wählerisch sein. Ich lasse ihn in Ruhe.

Er zieht von dem Aktenschrank eine hölzerne Schublade heraus. Drinnen sind viele gleichausschauende Karten aus Karton. Er zieht eine aus. Wählt bei seinem Telefonapparat durch mehrmals drehen der Wählscheibe mit seinem Zeigefinger eine Nummer aus.

Spricht irgendetwas. Legt ab.

Er wiederholt dasselbe einige mal.

Dann sagt er: "Wir haben etwas gefunden. Textil."

Was macht man beim Textil? Werde ich an einem Webstuhl sitzen? Ich werde sehen.

Er hört aber nicht auf zu telefonieren und ruft noch einige Nummern an. Er führt längere Gespräche.

Denn Zettel mit seinem Namen und seiner Adresse habe ich ihm gegeben. Er liegt auf seinem Tisch. Er kritzelt mit einem Kugelschreiber etwas darauf. Ich denke, dass sind "amtliche Notizen", ich muss diesen Zettel an einen anderen Beamten weitergeben und langweile mich weiter.

Was macht er so lange?
Dann ruft er wieder jemanden an und kritzelt auf der Rückseite des Zettels weiter.

Ich denke alles Mögliche, aber nicht daran, dass er ein Parteigenosse des Schlossherrn ist, und sich besonders bemüht alle Steine auf meinem Weg in diesem Land wegzuräumen. Sein Gesicht ist so ausdrucklos, dass ich nicht daran denke, dass er mir helfen will. Ich denke, dass er nur seine Pflicht ausübt. Auch denke ich nicht daran, dass auch mein Vater, der Beamte, ein Pokergesicht hat.

Dann gibt er mir den Zettel.

Ich verstehe nicht, was darauf geschrieben ist. Ich falte ihn und stecke ihn in meine Jackentasche. Später gebe ich ihn in meinen Koffer. Einige Monat später stecke ich ihn mit einigen anderen Zetteln in ein großes, gelbes Kuvert.

Einige Jahre später werden mehrere solche Kuverts gelocht und in einem dicken Ordner geordnet. Dieser Ordner überlebt zahlreiche Übersiedlungen und ist jetzt in meiner Hausbibliothek in Niederösterreich. Jetzt, weil ich diesen Roman schreibe, schlage ich diesen Ordner wieder auf. Dann finde ich unter anderen auch diesen Zettel nach fünfzig Jahren seiner Entstehung wieder.

 

 

Adresse:
Herrn Ferdinand Hagen
Landesarbeitsamt
Bregenz

with Congratulations from Norbert Neururer and Ernst Winder

to morrow Monday at 9 Uhr.

Rücksprache genommen mit Krim. Insp. Dichtl von der Sicherheitsdirektion Bregenz. Nächstmögliche Erteilung Visum "A" (Sichtvermerk zur Arbeitsaufnahme) ist möglich. -Arbeitsvermittlung wurde eingeleitet.- Arbeitgeber wird sodann Antrag auf Arbeitserlaubnis und Beschäftigungsgenehmigung stellen.

Arbeitsaufnahme vorgesehen in der Textil- oder Metallindustrie. Sodann kann sich S. um einen "Flüchtlingspaß" -Anerkennung als Konventionsflüchtlig- bei der seinen Wohnsitz zuständigen Bezirkshaupmannschaft oder der Sicherheitsdirektion Bregenz (Herrn Insp. Winkler) bewerben.

30. 08. 71
Hagen

Umseitig

H. (unleserlich) (unleserlich) Winder sollte sich lt. Ansicht d. H. Amtsleit. OR Neururer um ein Stipendium der Euro- Afro- Asiat. Gesellschaft in Wien bemühen. Er wird mit ihm noch darüber sprechen.

An H. Keltenmaier
Arbeitsamt Dornbirn
St. Martinstraße 6

Mit dem dringenden Ersuchen um Sofortvermittlung in Industrie (Metall-Textil usw.) oder Handwerk gem. heut. Rücksprache.
Ha.

Woher soll ich wissen, dass der Schlossherr für mich eine perfekt geölte Maschinerie in Gang gesetzt hat?

Bruno Kreisky von der SPÖ ist Bundeskanzler. Die SPÖ ist im ganzen Land vernetzt. Durch Empfehlung des Schlossherrn bin ich bereits in dem Club angenommen. Ab jetzt ist für mich ein steiler Karriereweg nach oben geglättet. Egal wo ich hin gehe, werden vor meine Füße rote Teppiche verlegt.

Norbert Neururer und Ernst Winder sind die Landtagsabgeordneten der SPÖ in der Vorarlberger Landesregierung. Später beide Universitätsprofessoren. Wenn ich sie einmal besuchen könnte…

Ein Flüchtlingspass wartet auf mich. Danach die Staatsbürgerschaft.

In Wien ist Kardinal König Erzbischof. Bruno Kreisky und Kardinal König versöhnen sich und der ewige Konflikt zwischen Sozialdemokratie und Katholischer Kirche ist beigelegt.

In Wien, in der Türkenstraße entsteht das Afro-Asiatische Institut. Ein paar Jahre später werde ich in der nächsten Parallelgasse, Berggasse wohnhaft. Ich war öfters in dem Afro-Asiatischen Institut. Dort wohnen Afrikanische, Afghanische Studenten in beheizten, sauberen Zimmern. Sie bekommen immer wieder saubere Bettwäsche. Sie bekommen auch ein Stipendium.

Was könnte passieren? Ich habe Schauspiel studiert. Aber ich kann nicht Deutsch. Das ist hier nicht nützlich.

Ich habe zuletzt Volkswirtschaft studiert. Ich kann dieses Studium hier fortsetzen.

Wie ich gescheit bin, bin ich bald Doktor irgendetwas. Dann werde ich Filialdirektor von einer Bank? Oder Bankdirektor? Oder vielleicht ein korrupter Finanzminister?

Leider erfahre ich all das nach fünfzig Jahren.

Stattdessen wurde ich ein Opfer der Fortuna. Sie hat ihr Rad einmal nach rechts, einmal nach links heftig gedreht und ruck: Ich war auf allen Vieren auf der Straße.

Für mich war Obdachlosigkeit, Hunger, Sklavenarbeit, jahrelanges Katz- und Mausspiel mit der Fremden- und Staatspolizei vorgeschrieben.

Bis ich die Staatsbürgerschaft bekam, musste ich fünfundzwanzig Jahre warten. Bis ich mir ein Studium selbst finanzierte, dauerte es noch länger.

Lieber Ferdinand Hagen,
Du hast mir eine glänzende Jugend geschenkt.

Leider habe ich erst jetzt, als ein alter Mann im Rollstuhl sitzend davon erfahren.

was bisher geschah
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017