Arbeitsamt Dornbirn

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
ARBEITSAMT DORNBIRN

 

Herr Hagen zeigt mir mit seiner Hand die Tür. Anscheinend sind wir fertig. Ich bedanke mich und stehe auf.

Dann aber passiert etwas, was ich nicht erwartet habe: Auch er steht auf und kommt zu mir. Verwirrt, warte ich ein paar Sekunden. Er zeigt wieder die Tür. Ich gehe weiter zu Tür, mache sie auf und gehe hinaus.

Er nimmt meinen Koffer. Ich nehme den Ball mit Zeitungen und das Saz mit und wir gehen weiter.
Beim Portier macht er halt und spricht mit ihm irgendetwas. Dann gehen wir weiter.

Wir sind draußen. Wir gehen zu einem der parkenden Autos. Er macht den Kofferraum auf. Wir stellen Zeitungsball und Koffer dorthin. Das Saz halte ich in der Hand.

Wem gehört dieses Auto? Ist das ein Amts-Auto? Es ist kein Jeep. Darauf steht kein Amtszeichen oder Fahne oder ähnliches.

Ist das sein eigenes Auto? Minister haben Limousinen, und sie wurden von einem Chauffeur gefahren. Kann ein einfacher Beamter sich ein Auto leisten? Mein Vater hatte kein Auto. Ein Zollbeamter könnte niemals ein Auto besitzen. Außer dass er einen reichen Onkel in den USA hatte, der Onkel stirbt usw. Auch dann würde er kein Auto kaufen. Sonst würde er suspendiert und gegen ihn würde ein Verfahren wegen Bestechlichkeit eröffnet.

Während ich die Merkwürdigkeiten zu deuten versuche, sind wir am Ziel.

Ich denke, dass wir nur im Kreis gefahren und wieder zurückgekommen sind. Derselbe große, betonierte Parkplatz mit wenig parkenden Autos, derselbe Neubau. Wir steigen aus.

Er nimmt meinen Koffer und ich nehme den Rest mit und wir gehen zum Gebäude. Gleiche Portiersloge, gleiche Glasscheibe mit einem runden Loch. Der Portier ist aber ein anderer. Vielleicht Schichtwechsel?

Begrüßung. Hagen spricht irgendetwas mit dem Portier. Der Portier kommt heraus und bringt uns zu einer Tür. Rundherum das gleiche Interieur in Gelb-Orange mit Nummernschildern.

Wir gehen in den Raum. Auch alles gleich bis zum Aktenschrank. Aber hinter dem Tisch sitzt ein anderer Beamte.

Ich sitze wieder auf dem Sessel an der rechten Seite. Hagen sitzt nicht. Spricht stehend irgendetwas mit den Beamten und verabschiedet sich.

Jetzt bin ich beim Herrn Keltenmaier. Er holt ein Karteikästchen und legt für mich eine neue Kartei an. Er verlangt meinen Reisepass und ich gebe. Er trägt sorgfältig meine Daten ein. Dann gibt er mir den Pass zurück.

Dann holt er ein anderes Karteikästchen und beginnt zu telefonieren. Ich sitze, langweile mich und denke, dass alle Beamten auf der Welt gleich ausschauen und ernste Miene machen, damit man sie ernst nimmt.

Dann halbiert er ein Schreibpapier und schreibt darauf eine Adresse.

"Das ist Ihr Arbeitsplatz. Morgen um acht Uhr in der Früh. Pünktlich."

Auf der anderen Hälfte schreibt er wieder eine Adresse auf.

"Heute können Sie hier schlafen:"

Ich nehme die Zetteln, bedanke mich und stehe auf.

Auch er steht auf und wir gehen gemeinsam hinaus. Er nimmt meinen Koffer, ich den Rest, kurzes Gespräch mit dem Portier, und wir gehen.

Wieder ein kleines Auto, wieder Kofferraum und selbes Ritual. Wir fahren.

Nach einer Weile kommen wir wieder an einen ähnlichen Ort mit Beton Parkplatz, nicht einmal zehn Jahre altem Gebäude und so weiter. Ist hier alles neugebaut? Was war hier früher? Eine Wüste? Felder?

Wir gehen in das Haus. Glasscheibe mit dem Loch und Portier sind gleich. Aber hier ist nichts mehr alles Gelb-Orange. Vieles nur weiß. Herr Keltenmaier spricht irgendetwas mit dem Portier, schüttelt meine Hand und verabschiedet sich.

Jetzt sitze ich in einem Korridor auf einem Metallsessel. Vor mir liegen mein Hab und Gut. Neben mir sitzen noch einige Menschen auf den Metallsesseln.

Wo bin ich gelandet? Ist hier mein Arbeitsplatz?

Einige Männer gehen vor mir vorbei. Sie haben weiße Kitteln an. Und an ihrem Hals hängen Stethoskope. Sind sie Ärzte? Ist hier ein Spital? Bin ich krank?

Manche dieser Männer haben unter den Kitteln nackte Beine. Haben sie nichts darunter? Oder nur eine Unterhose? In der Türkei ziehen die Ärzte unter dem weißen Mantel normale Hosen an. Diese Männer sind aber nicht barfuß. Haben Socken und Schuhe an. Sie haben mehr oder weniger behaarte Beine.

Es gehen aber auch Frauen in einem weißen Kittel vorbei. Sie haben Kappen mit einem roten Kreuz. Ich nehme an, dass sie Krankenschwestern sind.

Es gehen aber auch Frauen mit hellblauen Mänteln herum. Sie haben keine Kappen.

Ich betrachte die Beine der Frauen. Sie haben keine Haare. Sind sie nicht katholisch? Was dann?

Eine Krankenschwester kommt und verlangt meinen Reisepass. Was mache ich ohne Reisepass? Nach einem kurzen Zögern gebe ich es ihr. Sie geht.

Gegenüber mir an der Wand zeigt eine runde Tafel, dass Rauchen verboten ist. Ich bin Kettenraucher. Langsam werde ich nervös.

Ich sitze und warte und meine Unruhe wächst.

Nach einer Viertelstunde kommt sie zurück und gibt mir meinen Pass zurück. Und macht mir ein Zeichen mit ihrer Hand, dass ich ihr folgen soll. Ich lasse meine Sachen am Boden und gehe mit.

Wir kommen in einen Raum. Hier schaut es wie in einer Arztpraxis aus. Ich muss mich an einen Bettrand setzen.

Ein Arzt kommt. Ohne Begrüßung hält er eine kleine Lampe an meine Augen und macht vor meinem Gesicht Handbewegungen.

Dann steckt er seine Zunge heraus und sagt:
"Aaaaaaa!"

Auch ich stecke meine Zunge hinaus, er hält meine Zunge mit einem Holzstab fest und ich sage: "Aaaaaaa!"

Dann klopft er mit einem Gummihammer an meine Kniee.

Dann strecke ich meinen linken Arm. Er bindet meinen Oberarm mit einer Gummibinde und steckt eine Nadel in meine Ader im Ellbogen. Er füllt einige Glastuben mit meinem Blut.

Die Krankenschwester wartet die ganze Zeit ab. Dann nimmt sie mich mit und wir gehen in einen anderen Raum.

Ich mache meinen Oberkörper frei und stehend berühre ich eine Metallplatte mit meiner Brust.

Lungenröntgen.

Jetzt habe ich aber richtig Angst.

Meine Mutter hatte fünfunddreißig Geschwister. Aber entweder der Vater oder die Mutter hatten sie gemeinsam. Nur drei Geschwister von ihr waren von den gleichen Eltern: Onkel Saim, Tante Muzaffer und Tante Emine.

Tante Emine war nicht verheiratet. Sie lebte mit einem Mann zusammen, der Alkoholiker war. Er war auch arbeitslos und hatte Tuberkulose. Auch Tante Emine hatte Tuberkulose und arbeitete hin und da als Bedienerin.

Sie und ihr Freund lebten in einer ohne Bewilligung selbst gebastelten Blechhütte. Dort hatten sie kein Wasser. Ihr größtes Anliegen war, alle ein oder zwei Monate einmal sich zu baden. So bat sie immer wieder meine Mutter, ob sie kommen darf. Meine Mutter schämte sich sehr über ihr Dasein und bewilligte sie hin und da zu kommen, mit der Auflage, dass sie sich den Nachbarinnen nicht zeigte.

Meine Mutter behandelte sie wie eine fremde Bettlerin und hängte ihr Gesicht hinunter in ihrer Anwesenheit.

Mein Vater behandelte sie freundlich aber nicht besonders persönliche Nähe zu demonstrieren, aber auf jeden Fall mit Respekt.

Mein Vater hatte zwei Maßanzüge komplett im Kleiderschrank. Einmal im Jahr schenkte meine Mutter einen davon an Tante Emine für ihren Freund. Aber niemals ihre eigenen, selbst genähten Kleider. Wie ich klein war, wetzten die Ellbogen von der Jacke meines Vaters durch die Reibung an seinem Schreibtisch immer wieder durch. Meine Mutter flickte das mit einem runden, schwarzen Stoff. In den letzten Jahren machte sie das nicht mehr. Stattdessen zwingt sie ihn immer wieder, einen neuen Maßanzug schneidern zu lassen.

Dann entdeckte mein Vater, dass einer seiner Maßanzüge verschwunden war, und verlor für eine Weile seine ewige Selbstkontrolle und begann zu schreien:

"Weib! Du wirst mich früher oder später an den Bettelstab bringen. Ich ficke deine Religion, deren Gott, dessen Prophet, dessen Buch."

Dann wiederholte er ein paarmal immer leiser werdend dasselbe und fickte die gesamte Mannschaft mehrmals.

Die ganze Zeremonie dauerte höchstens zehn Minuten und er holte sein Pokergesicht samt Lächeln der Mona Lisa wieder zurück.

Tante Emine rauchte auf der Straße, was meine Mutter niemals machen würde, und zog sich mehr als erlaubt aus, wenn es im Sommer einmal sehr heiß seien sollte. Ich habe Tante Emine sehr gern gehabt. Nicht zuletzt deswegen, weil sie mit mir Ringkampf übte.

Ich habe meine Lunge niemals untersuchen lassen. Höchst wahrscheinlich habe auch ich Tuberkulose.

Was ist, wenn ich Tuberkulose habe? Werden sie mich zurückschicken? Das ist mein Todesurteil! Anderseits habe ich einen noch gültigen Reisepass, wenn auch die Daten darauf nicht ganz stimmen. Soll ich rebellieren? Ich werde geduldig bleiben und das Ende abwarten. Dann kann ich immer noch Radau machen.

Ich sitze im Korridor auf einem Metallsessel. Rauchen darf ich nicht. Ich warte und warte und warte.

Ich werde immer unruhiger. Aber ein Berufsrevolutionär muss sich auch beherrschen können, wenn es nötig wird.

Nach etwa vier Stunden kommt eine Krankenschwester und gibt mir ein Papier. Was darauf steht, weiß ich nicht. Ich merke nur, dass darunter ein Stempel und mehrere Unterschiften stehen. Und mich verhaftet niemand. Also bin ich kerngesund?

Die Krankenschwester sagt mir, dass ich dieses Papier an "Factory" geben soll.

Ich gehe zum Portier, und zeige das Papier mit der Adresse, wo ich heute schlafen soll. Er zeichnet mir auf einen Zettel eine Skizze, wie ich zur Bushaltestelle komme.

was bisher geschah
weiter lesen
start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017