Dem Inscheniör, nichts ist schwör!

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DEM INSCHENIEUR, NICHTS IST SCHWÖR!

 

02.09, 1971, Mittwoch
Arbeitsschicht: 16.00-24.00

 

Es ist zwanzig Minuten vor vier Uhr Nachmittag. Ich stemple meine Karte. Ich mache mein Spindel auf, falte meinen Anzug möglichst sorgfältig und gebe ihn hinein. Auch drei Stück von meinen Heften lege ich dazu.

Ich ziehe meine Kordsamt-Hose an. Marlboro, ein Heft und einen Kugelschreiber nehme ich mit und gehe zu meinem Monster.

Auf der Holzbank steht bereits eine Kiste mit neugefüllten Schifflis.

Ich ziehe den Schalter hinunter und es beginnt das ewige "Ping, ping!".

Wie verhält er sich, wenn ein Revolutionär bevor der Revolution so nahe an eine Industrieanlage kommt?

Ich denke, wenn die Einrichtung für die Gesellschaft etwas Nützliches produziert, muss ich die Anlage schonen. Nach der Revolution wird sie Eigentum des Proletariats sein.

Aber eine Einrichtung, die nichts als ein Luxusgut wie Strickerei produziert?

Wenn sie sich in der faschistischen Türkei befindet, am besten ein paar Dynamitstangen mitnehmen und aufsprengen.

Ich bin aber nicht mehr in der Hölle und anscheinend ermöglicht diese Anlage hier für jeden inländischen Arbeiter den Erwerb eines eigenen Autos.

Während ich das denke, macht das Monster alle paar Sekunden "Ping, Ping!" und ich springe herum. Das nervt! Tausende Menschen springen lebenslang herum wegen diesen sinnlosen Schifflis! Wozu habe ich die Schulhefte und Kugelschreiber gekauft? Ich entscheide mich, die Menschheit von dieser Quälerei zu retten.

Ich bringe den Schalter wieder hinauf und es bleibt die Maschine still.

Mein Vater wollte, dass ich Maschinenbauingenieur werde. Das bin ich nicht. Aber aus Neugier habe ich mich seit meiner Kindheit mit der Materialkunde beschäftigt. Ich habe allerlei Maschinen, die unter meine Hände kommen, auseinandergenommen und wieder zusammengebaut. Ich kenne mich mit der Mechanik sehr gut aus.

Als Grafiker habe ich immer wieder für die Industrieunternehmen technische Zeichnungen angefertigt. Da ich nicht kreativ sein konnte, war es langweilig aber gute Übung für die Genauigkeit und Hilfswerkzeugs Verwendung wie Zirkel und Schablonen.

Ich zeichne eine Schachtel. Auf der mir gegenüberstehenden Wand sind zwei gewölbte Stangen, die mit Federn befestigt sind. Ich schiebe ein Schiffli hinein. Unten ist ein Stoßscheibe, dass es nicht weiter rutscht.

Auf meiner Seite ist drinnen eine Häkelnadel. Auch mit einer Feder an der Wand befestigt. Draußen ist ein Knopf. Wenn ich darauf drücke, fährt die Nadel durch eine Führung in das Loch vom Schiffli hinein. Dann kommt es wieder heraus.

Aber die Nadel, wenn sie hineinfährt, muss eine kleine Drehung nach rechts machen. Das kann ich draußen mit der Hand machen. Aber das ist noch eine zusätzliche Handbewegung.

Eine andere Möglichkeit ist, einen elektrischen Motor einzubauen. Aber wie soll sich der Motor automatisch ein- und ausschalten?

Seit einer Stunde steht meine Maschine still. Der Betreuer der nächsten Anlage hinter mir dürfte das längst bemerkt haben. Warum schlägt er nicht Alarm?

Ich gehe direkt zu ihm. Er ist etwa fünfzig. Sein Kopf hat vorne keine Haare. Hinten hat er dunkelblonde, für sein Alter viel zu lange Haare.

Er hat ein Leibchen, ohne Ärmel an. Er ist nicht dick, aber hat einen großen Bauch, so dass sein Nabel außerhalb vom Leibchen steht. Ist er schwanger?

Trotz seinem Wamperl springt er bei jedem "Ping!" wie ein Affe rauf und runter. Er ist ziemlich verschwitzt, sein Leibchen ist ganz nass.

Ich reiche ihm meine Hand und sage: "Memo."

Er reicht mir fast leblos seine Hand und sagt "Hannes:" Seine Hand ist weich und waschelnass.
Während er mit mir handschüttelt, lässt er einen heftigen Furz explodieren. Es stinkt fürchterlich.
Ist in Österreich öffentlich Luft ablassen nicht eine Schande? Oder vielleicht in ganz Europa? Oder ist das nur in Lustenau so?

Er hat honigfarbene Augen. Sein ganzer Körper scheint wie Wachs zu schmelzen und dickflüssig wie Honig zu sein.

Dann macht seine Maschine "Ping!" und er springt wie ein junger Affe hinauf.

In der linken Hand hielt er die ganze Zeit eine Bierflasche. Er wechselt das Schiffli nur mit der rechten Hand und lässt die Bier Flasche nicht weg von der Hand. Immer wieder nippt er einen Schluck.

Ich beobachte ihn ein paar Minuten. Es stört ihn nicht. Dann gehe ich wieder zu meiner Maschine zurück. Ich kippe den Schalter wieder nach unten und arbeite eine Weile.

Es ist gut zu wissen, dass es für Hannes ganz gleichgültig ist, ob ich arbeite oder nicht. Aber es kann jeder Zeit mein Sklavenhalter kommen und feststellen, dass meine Strickbahn sich nicht mehr verbreitet.

Dann schrillt wieder die Alarmglocke. Es ist Leberkäse-Zeit. Ich gehe in die Kantine.

Erst hier sehe ich für Heute meinen Sklavenhalter. Mich begrüßt er nicht. Auch ich ihn nicht. Er spricht mit ein paar anderen Männern und alle lachen laut. Da lerne ich seinen Namen. Seine Kollegen nennen ihn "Schtefan".

Ich bin wieder bei meiner Maschine. Ich sitze auf der Holzbank und zeichne an meiner Erfindung. Und ich rauche Marlboro. Und stelle fest, dass ich vermehrt huste. Marlboro schmeckt mir nicht.
Ich zeichne fast eine Stunde. Meine Maschine bleibt still. Dann höre ich lautes Gelächter. Die Stimmen kommen von der Stelle des Hannes. Ich gehe hin.

Auch die Maschine von Hannes ist abgeschaltet. Jetzt stehen bei ihm eine junge Frau und vier Männer. Anscheinend sind gleichzeitig mehrere Maschinen abgeschaltet. Der große Lärm im Saal ist ziemlich gedämmt.

Die Frau ist knapp unter dreißig. Sie ist nicht unbedingt dick, aber hat einen sehr großen Busen und sehr breite Hüften. Und sie hat die gleichen honigfarbenen Augen wie der Hannes. Später werde ich sehen, dass sie fast jede Stunde eine Flasche Bier zu ihrem Vater bringt. Und jedes Mal bleibt der Saal fast still.

Die mitgekommenen Männer zwicken ihren Körper überall. Sie macht mit ihren Händen und Armen unbeholfene große Bewegungen aber wehrt sich nicht wirklich. Sie kichert nur lautstark. Auch die Männer lachen.

Hannes sagt nichts, lächelt nur wie ein Watschenmann.

Wenn das mit meiner Schwester passieren sollte, erstens sie würde nicht kichern, zweitens mein Vater würde seine Dienstpistole herausziehen.

Das ist der typische Fall für einen Ehrenmord in der Türkei.

Gibt es hier Begriffe wie Ehre? Ist die Ehre auch hier mit dem Körper der unter die eigene Obhut der Männer gestellten Körper der Frauen verbunden? Ich merke nur, dass die Geschlechterrollen betreffend hier irgendetwas anders ist. Aber wie läuft das hier? Ich denke an Herrn Tatar. Ich glaube ihn aber nicht. Ich kenne mich einfach nicht aus.

Nach einigen Minuten ziehen sich alle zurück. Auch ich. Und bemühe mich, dass mein Gewebe sich verbreitet.

Erst jetzt kommt der "Schtefan" wieder und beobachtet mich ein paar Minuten von drei Meter Abstand.

Ich sage: "Schtefan, Du! Was ischt?" Er schüttelt seinen Kopf und verschwindet wie ein frisch bestrafter Hund.
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017