Wiedersehen mit der Familie

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
WIEDERSEHEN MIT DER FAMILIE

Meine Mutter, Frau Fatma (Gehilfin von Eisverkäufer Halil), mein Vater und ich. Ganz vorne: Mein süßer und kluger Bruder.
 

 

Nach Feierabend des Zollamts bringt mich Mustafa zum Nusratiye "Mahallesi" (=Kreis), 37. Gasse, Nr. 5. Hier ist die eigentliche Altstadt. Zwei-bis drei- stöckige Steinhäuser. In unserem Haus war die Fassade irgendwann ein helles Orange, bevor der Putz zum Großteil hinuntergefallen ist. Fein konstruierte Fensterläden aus Holz sind noch immer himmelblau.

Hier wohnen hauptsächlich Armenier. Wie haben sie den Genozid 1915 überlebt? Sind sie nach Syrien vertrieben worden? Die zurückkommenden wurden nach dem ersten Weltkrieg von den Banden des Mustafa Kemal Pascha massakriert. Ihre Hab und Gut, vor allem ihre Bauernhöfe und Häuser "türkisiert". Wie haben diese Leute alles überlebt? Wie haben sie ihre Häuser wieder zurückgekriegt?

Im Mittelalter war hier das armenische Königreich Kilikia, genannt Kleinarmenien.

Im fünfzehnten Jahrhundert haben die Osmanen Kilikia einverleibt. Bald bleibt von der Zivilisation nichts mehr übrig. Bis zum neunzehnten Jahrhundert haben die Osmanen hier nicht einmal eine Moschee gebaut.

Im neunzehnten Jahrhundert bauten die Osmanen Eisenbahnschienen bis zur Küste und dort eine Anlegebrücke für die Schiffe. So wurde aus dem vollkommen bankroten "Kranken Mann am Bosporus" Rohstoffe nach Europa exportiert und Industriegüter aus Europa importiert.

Die Händler waren hauptsächlich Nicht- Muslime, vor allem Armenier. Auch die Gebäude hier wurden von den "Architekten der Osmanen", also Armeniern, gebaut. So sind diese Häuser, wenn auch nicht mehr gepflegt, von dieser Zeit übrig geblieben.

Madam Agavni (=Taube, armenisch) macht das Tor auf.

Muslimische Frauen nennt man Hanim. Zum Beispiel meine Mutter nennt man "Nurten Hanim". Christliche Frauen nennt man "Madam", und "Madam" wird vor dem Namen eingesetzt.

Mein Vater ist bereits zu Hause und kommt gefolgt von der Familie heraus.

Madam Agavni ist etwa so alt wie meine Mutter. Sie hat einen geheimnisvollen Charme, womit sie einen Fremden sofort neugierig macht und "vereinnahmt". Ihre großen braunen Augen bleiben immer traurig, auch wenn sie lacht.

Wenn sie anwesend ist, leuchtet sogar das ewige Pokergesicht meines Vaters, was meine Mutter sichtlich unsicher macht.

Madam Agavni schreit über die Treppe hinauf:

"Hamo! Komm bitte hinunter!"

Hamo dürfte mindestens siebzig Jahre alt sein. Trotz seinem Buckel ist er groß. Und sehr schlank. Er hat weiße, kurze Haare und ein glatt rasiertes Gesicht.

Er begrüßt alle anwesenden mit einem Kopfnicken. Dann bleibt er vor mir stehen.

Er bewegt sich sehr langsam. Mit großen Augen schaut er mich ziemlich lang und mehrmals von oben nach unten an. Dann reicht er mir seine Hand.

"Hamo!"

Sonst sagt er nichts. Er redet möglichst wenig.

Dann zündet er sich eine Zigarette an und stellt seinen mitgebrachten Aschenbecher auf den nächsten Tisch.

Meine Mutter sagt mir:

"Du sollst von Hamo ein bisschen Sauberkeit lernen. Wenn er eine Zigarette raucht, wäscht er sofort seinen Aschenbecher."

Das Haus, in dem mein Vater das untere Stockwerk gemietet hat, gehört "Hamo". Weil kurdisch "Onkel" "Apo" heißt, nehme ich an, dass Hamo auf armenisch Onkel heißt.

Außer meinem Vater habe ich meine Familie lange nicht gesehen. Meine Mutter und meine Schwester umarmen mich und küssen meine Wangen. Auch mein Bruder versucht mich zu umarmen. Aber er ist noch zu klein.

Ich beuge mich nieder und küsse seine Wangen.Wie alt war er, als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe? Ich glaube eineinhalb Jahre. Also ein Baby.

Jetzt ist er drei Jahre alt. Er läuft herum wie ein nur drei Käse hoher verkleinerter Mensch und beobachtet alles. Ich finde seine Erscheinung sehr lustig. Kann er sich noch an mich erinnern?

"Wo warst du?", sagt er. "Ich habe dich sehr vermisst!", und schaut mich mit durchbohrenden Augen an. Aus mit Lustig! Er zwingt mich, ihn ernst zu nehmen.

"Ich war in Istanbul.", sage ich.
"Was hast du dort gemacht?"
"Studiert" sage ich.
"Was ist das?"

Seine Selbstsicherheit löst bei mir Respekt aus. Er fragt und fragt. Wenn eine Antwort nicht in seine bisherige Erfahrungskiste passt, fragt er weiter.

Dieser kleine Teufel gefällt mir.

Woher sollte ich wissen, dass ich ihn Jahre lang nicht mehr sehen werde und dass er eines Tages als eine riesige Eiche vor meine Tür stehen wird?

In meiner Kindheit war meine Mutter meine Liebe, auch wenn das eine Hass-Liebe war.

Seit meiner Pubertät ist es vorteilhaft, mit ihr nicht zu reden.

So wie immer fangt sie an zu fragen:

"Wo warst du? Was hast du gemacht?"

Und sie will nur erfahren, erstens, ob ich bald zu Reichtum und Macht kommen werde und zweitens, ob ich schon eine Braut aus "guter Familie" gefunden habe und wieviele Kinder ich erzeugen will.

Ihr Weltbild bestimmen ihre Freundinnen, die Ehefrauen, aus dem unteren Kleinbürgertum und alle Analphabeten. Sie wissen mit einem Absolutismus, wie die Welt sich dreht und dieses Wissen darf nicht in Frage gestellt werden.

Mein Vater rettet mich:

"Frage nicht so viel. Er ist gerade gekommen. Er ist sicher noch sehr müde."

Dann kommt meine Schwester und sagt:

"Bruder! Hier gibt es einen wunderschönen Badestrand. Hier ist das Meer anders als in Istanbul: wenn du ins Wasser gehst, hebt es dich ab. Ich darf aber nicht allein dorthin gehen. Kannst du morgen mit mir zum Strand gehen?"

Meine Schwester ist jetzt sechszehn Jahre alt. Sie wird eine Schönheit und viele Herzen brechen.

Ich verspreche ihr, sie morgen in der Früh abzuholen.

Dann zieht mich mein Vater zur Seite:

"Sprich nicht viel mit deiner Mutter. Sie kann nichts für sich behalten. Es ist gefährlich."

"Aber mit meiner Schwester?"

"Sie ist eine Prinzessin. Sie wird keine Erbse vertragen. Sei sehr vorsichtig! Und du kannst nicht hier bleiben. Es ist gefährlich für uns alle. Ich habe eine Verbleibe für dich. Es wird dir sicher gefallen. Mustafa wartet draußen auf dich. Er wird dich dorthin bringen.


 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017