Bahnhof Lustenau

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
BAHNHOF LUSTENAU
Bahnhof Lustenau, 1971

 

06. 09. 1971, Sonntag

Jetzt weiß ich, wo sich die Arbeiter aus der Türkei am Wochenende treffen: Am Bahnhof. In den kommenden Monaten werde ich sehen, dass es nicht nur in Lustenau, sondern in allen Orten Österreichs so ist.

Warum? Weil die meisten von ihnen per Eisenbahn hierhergekommen sind? Ob sie davon träumen, wieder in einem Zug in die Heimat zurückzufahren? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wissen auch sie selbst es nicht.

Das merkwürdige ist, dass sie sich nicht auf dem Steig neben den Gleisen versammeln, sondern hinter dem Bahnhof. Hinter dem Bahnhof ist ein breiter Parkplatz, danach kommt eine Straße. Neben dieser Straße stellen sich die "Türkischman"s einer neben dem anderen in eine Reihe.

In aller Früh gehe auch ich zum Bahnhof.

Ich ziehe aber nicht meinen Anzug, sondern die dreckigen Arbeitsklamotten an. Ich will nicht mit meinem Maßanzug unter den dreckigen Männern als ein Außerirdischer auffallen.

Ja, diese Muttersöhne sind dreckige Männer. Bis sie heiraten putzen sie ihre Mütter, danach ihre Frau. Da sie ihre Mütter und Frauen nicht mitnehmen könnten, pflegt sie jetzt niemand mehr.

Alle Männer haben hellbraune Hosen aus Baumwolle. Ich bin der einzige mit Kordsamt Hose. Und fast alle haben einen Oberlippenbart. Mittlerweile habe auch ich ein Vollbart, weil ich mich nicht rasieren kann.

Ich spiele nach Mao´s Empfehlung "ein Fisch im Wasser unter den Massen", aber ich merke immer mehr, dass ich nicht einer von ihnen bin. Mit dem städtischen Proletariat habe ich mich besser vertragen. Diese neu umgewandelten "Fremdarbeiter" in Lustenau sind ausnahmslos ehemalige Bauern ohne Industrieerfahrung.

Aber egal wo ich hin gehe, meine Aufgabe ist Propaganda und Agitation. So geselle ich mich leise zu ihnen.

Ich bleibe fast in der Mitte der Reihe. So beobachte ich rechts und links alle Sklaven und auch die Straße. Auf der Straße ist kaum Verkehr. Sehr selten fährt ein Auto.

Immer wieder bewegt sich einer aus der Reihe und geht zu einem anderen, mit ihm zu reden. Dann kommen noch ein paar dazu und es wird die Reihe zerstört. Aber nach einigen Minuten gehen alle zurück und besetzen wieder ihre ursprünglichen Plätze.

Hinter der Reihe kommt einer leise zu mir und sagt:
"Ist halal (=nach Islam erlaubt) Hure erwünscht?"

Er hat einen Vollbart und einen Rosenkranz. Ist er ein Imam?

"Was ist eine halal Hure?", frage ich.

"Glatt rasiert wie die Sahne."

"Kann sie beten vorher?"

Er murmelt irgendetwas, glücklicher Weise versteht es niemand und er geht wieder.

Der Mann rechts von mir fragt:

"Bist du neu hier?"

"Ja."

"Was machst du?"

"Arbeite in der Textilfabrik."

"Ich Baustelle. Ziegel tragen, Zement tragen."

Der Mann links von mir fragt:

"Hast du Mestschete?"

"Was ist das?"

"Ohne Mestschete kannst du nicht arbeiten."

"Hast du sowas?"

"Selbstverständlich."

"Kannst du mir das zeigen?"

Er zeigt mir seinen türkischen Reisepass. Er hält ihn mit beiden Händen fest, damit ich ihn nicht wegreißen kann. In der Mitte ist ein Zettel. Darauf steht "Meldezettel." Wie wird das Wort Meldezettel zur Mestschete?"

Die Sklaven wollen nicht mehr Deutsch lernen außer ein paar Wörter, die zum Überleben notwendig sind. Da ich jetzt ein alter Mann bin weiß ich, dass die Leute, die mit mir gekommen sind, noch immer kein Repertoire als etwa hundert Wörter in Deutsch haben.

Die Sklavenhalter sprechen mit ihnen ein spezielles "Ausländer-Deutsch", so dass sie niemals durch das Sprechen mit den einheimischen Deutsch lernen könnten, auch wenn sie wollten. Aber dass merkwürdigste ist, wenn sie untereinander türkisch reden, verwenden in der Unterhaltung mindestens hundert Wörter, die wieder ein spezielles, selbst erfundenes "Türkisch-Deutsch" bilden, zum Beispiel "Mestschete".

Nach der näheren Betrachtung verstehe ich, was diese Mestschete sein soll. Auch in der Türkei gibt's ein "Ikametgah Senedi" (=in etwa Wohnortsbestätigung). Das muss man nicht ständig mit sich tragen. Aber wenn du einen Behördenweg hast, zum Beispiel für einen Reisepass, brauchst du so einen Wisch. Dann gehst du zum Bürgermeister, du kennst ihn nicht, er kennt dich nicht, aber füllst du einen Zettel aus, zahlst du zwei Türkische Lira und fünfzig Kuruschs, und er stempelt es. Wenn es nicht so wäre, würde ich niemals einen Reisepass bekommen und in der Folge würde ich jetzt nicht hier sein.

Mich wundert es, dass die Überwachung hier besser funktioniert als in der faschistischen Türkei. Aber wenn der Faschismus nicht immer und überall so korrupt und schlampig wäre, wäre vielleicht die Menschheit jetzt bereits ausgelöscht.

"Bekommt jemand hier türkische Zeitungen? Gibt es etwas Neues in der Türkei?", frage ich.

"Was soll in der Türkei neu sein? Bei uns bleibt, Gott sei Dank, alles immer gleich."

Ein anderer kommt zu uns"

"Hier gibt es keine türkischen Zeitungen. Außerdem die meisten von uns können sowieso die Zeitungen nicht lesen."

Langsam sammelt sich um uns eine Gruppe.

"Solange wir über unserem Kopf die Paschas haben, haben wir keine Sorgen."

"Die Paschas werden alle Goministen töten und wir brauchen dann keine Angst vor Ungläubigen zu haben."

Anscheinend besteht diese ganze Lustenauer Bahnhofsgemeinde aus sunnitischen Muslimen. Diese Jahrhunderte lang gut erzogenen Schafe kann man misshandeln, wie man will.

"Und seid ihr glücklich damit, wie die Ungläubigen mit euch umgehen?"

"Das ist die Prüfung des Gottes. Sie können mit uns machen was sie wollen. Wenn der Gott auf unserer Stirn so vorgeschrieben hat, werden wir unser Schicksal ertragen, ohne uns dagegen zu wehren. Am Ende werden wir mit dem "Djennet" (=Himmel) belohnt. Die Ungläubigen gehen aber zum "Djehennem" (=Hölle)."

"Ihr wohnt hier in den unmenschlichen Unterkünften und zahlt dafür Unsummen von Geld. Der jugoslawische Staat stellt für seine Staatsbürger Arbeiterheime zur Verfügung. Die Paschas tun das nicht. Sie wollen nur eure Devisen. Stört euch das nicht?"

"Bist du nicht Muslim?", sagt einer.

"Er ist Armenier!", sagt ein anderer.

"Jude!", schreit ein anderer.

In zwischen ist die ganze Reihe um mich gesammelt.

"Ich bin weder Muslim, noch ein anderer Teufelsanbeter. Ich bin nur ein anständiger Kommunist!"
Stille. Die ratlosen Teilnehmer der Gruppe bewegen sich nach links und rechts, um Ratschläge zu holen.

Dann kommt einer, einen Kopf kleiner als ich, aber mit breiten Schultern und obligatorischem Schnurrbart, bläst sich auf und sagt:

"Bist du einer der Mannen von Deniz Gezmis?"

"Ich bin kein Man von irgendwem. Aber Deniz Gezmis ist tatsächlich ein Freund und ein Genosse von mir. Es ist schön, dass du seinen Namen kennst."

"Ich sage dir eines:", sagt er. "Wenn du uns nichts antust, tun wir auch dir nichts an!"

"Vielleicht kommst du dir lustig vor. Es ist aber für dich sicher sehr gesund, nicht öfter vor mir zu erscheinen."

"Ich habe alles gesagt!", sagt er und verschwindet.

Ich bin in einer feinen Gesellschaft gelandet.


 


 

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017