Republik-Kebap

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
REPUBLIK-KEBAP

 

Wir steigen in den Jeep ein. Jetzt bin ich mit Mustafa allein. Er ist der Fahrer und ich sitze neben ihm.

"Du hast gehört", sage ich, "Ich muss pünktlich sein. Wir haben wenig Zeit. Zeig mir bitte, wo dieses Republik-Kebap ist."

"Das ist am Hauptplatz. Ich zeige dir zuerst den Hauptplatz."


Atatürk-Statue, Republik-Platz, 1970 er Jahre, Mersin
 

 

In einer Minute sind wir dort. Wir steigen aus.

Das ist der Platz vor der Arabisch- Orthodoxen Kirche. Nach der Proklamierung der Republik Turkiya 1923, wurde der Platz umbenannt: Cumhuriyet (=Republik) - Platz. Die Straße davor, wo wir durchgefahren sind hieß damals Kischla (=Kasernen Straße). Am Ende dieser Straße wurde eine Kaserne gebaut.

In den 1940 er Jahren wurde hier eine Atatürk Statue aus Bronze hingestellt. Hinter dem Atatürk ist ein Volkshaus gebaut, wo das Volk im Sinne der nationalfaschistischen Ideologie erzogen werden sollte.

Danach wurde die Kischla Straße Atatürk-Straße benannt.

Der Platz ist ziemlich belebt. Auf den fahrenden und fixstehenden Ständen werden alle möglichen mir bekannten und unbekannten Obst und Gemüse, aber auch gekochte und frittierte Speisen dargeboten.

Die Verkäufer schreien türkisch und arabisch. Langsam herum flanierende Männer und Frauen feilschen mit den Verkäufern und füllen ihre Netze aus Hanfspagat.

Mustafa zeigt mir die ortseigenen Spezialitäten.

Mustafa ist schlank und großgewachsen wie ich, aber seine Arme reichen fast bis zum Knie. Wenn er geht, federt er an mehreren Stellen seines Körpers wie ein Känguru. Und immer wieder steht er still, beobachtet irgendetwas und macht zackige Hals und Kopfbewegungen wie eine Taube und kichert vor sich hin.

Ich frage ihn nicht, warum er kichert und anscheinend spürt auch er kein Bedürfnis, eine Erklärung abzugeben. Ich glaube, er ist bereits in seiner Jugend darauf gekommen, dass diese Welt und vor allem die auf dieser Welt lebenden Menschen einfach "komisch" sind.

Wir stehen vor dem Atatürk.

"Kör (=Blind) Misto!", sagt er und zuckt mit seinem Kopf und kichert. So nennen die Nord-Kurden den Diktator Mustafa Kemal Atatürk.

"Lieber Mustafa", sage ich. "Die Türkei ist ein Hundeparadies. Um jede Ecke steht ein Atatürk, wo die Hunde ein Hinterbein hochheben. Kör Misto interessiert mich nicht. Die Zeit wird knapp. Bitte zeig mir endlich das Republik-Kebap."

"Das ist gleich gegenüber", sagt er und wir überqueren die "Atatürk-Straße".

"Und jetzt zeig mir bitte den nächsten Barbier-Shop."

Nach fünfzig Metern sage ich: "Wir sehen uns später", und gehe in den Barbiershop. Ich habe Glück: Ein Sessel ist frei. Ich setze mich darauf und sage: "Bitte glatt wie ein Bräutigam."

Als Kind hat mich mein Vater einige Male zum "Amt" mitgenommen. Sein Mittagessen füllte meine Mutter in der Früh in die Tassen eines Hinkelmanns und er wärmte sie auf dem Heizkörper auf.

Auch als Erwachsener besuchte ich ihn an seinem Arbeitsplatz einige Male. Zum Mittagessen lud er mich zum "Piyazci" ein.

Das war ein ebenerdiger sehr kleiner Laden unter einem großen Geschäftsgebäude, wenn man gegenüber dem Zollamt ein bisschen nach rechts geht.

Es waren nur drei Tische, zu Mittag voll besetzt mit Arbeitern und kleinen Beamten.

Es gab nur Piyaz zu essen. Das sind gekochte weiße Bohnen, kalt und nur mit rohen Zwiebelscheiben garniert und sonst gar nichts. Dazu zwei Scheiben Mischbrot.

Trinkwasser war gratis, wenn man zum Klo geht und sein Glas bei dem Waschbecken selbst füllt.

Eine Portion Piyaz war 85 Kurusch.

Mann konnte dazu auch eine kleine Flasche Coca-Cola bestellen, zwei Zentiliter, also ein Limonadenglas. Das war eine türkische Lira und fünfzig Kurusch.

Das Republik-Kebap ist gegenüber dem Republik-Platz auf der Atatürk-Straße. Also musste es eigentlich "Atatürk-Kebap" heißen. Ob Kannibalismus in der "Republik-Türkei" verboten ist, weiß ich nicht, aber Beleidigung des Diktators ist heute noch immer per Gesetz verboten.

An dem ebenerdigen Geschäft ist ein riesiges Schild ohne Vergilbung und Farbrisse: "Cumhuriyet-Kebap".

Rechts und links der Eingangstür sind riesige Glasfenster, aber bis zur Augenhöhe Milchglas, dass man die Gäste nicht sieht.

Wenn man hinein geht, macht sich erst durch sein "Wummen" der Casablanca-Ventilator unter dem Plafond bemerkbar. Als Zeichen der versteckten Arbeitslosigkeit laufen acht Kellner in Livree und weißen Hemden mit Schweißperlen an ihrer Stirne herum und tun irgendetwas.

Es sind mehrere Tische zusammengestellt, so dass nur ein einziger riesiger Tisch vorhanden ist.

Rundherum sitzen die größten Arschlöcher der Stadt.

Ich gehe hinein. Mein Vater hat für mich den richtigen Platz reserviert: Ich sitze gleich in der Mitte mit meinem Hinten gegenüber der Eingangstür, so dass ich bei dem kleinsten Zeichen meines Vaters umdrehen und abzischen kann.


Stadtverwaltung Mersin, heute. Ich kenne diese Männer nicht. Zufällig in Google gefunden.
 

Also gegenüber mir sitzt mein Vater. Er hat inzwischen ein Sakko angezogen aber noch immer keine Krawatte. Rechts von ihm sitzt meine damals sechszehnjährige Schwester. Sie wird bald eine Schönheit und viele Männerköpfe verdrehen.

Übrigens, es gibt hier sonst keine einzige Frau.

Besteck, Servietten, Wasserkaraffe, Ayran (=Yoghurtgetränk) - Karaffe, alles bereit.

Bis auf den Hauptsitz, links von mir in der Mitte der Tischkante, sind alle Plätze besetzt.

"Mein Sohn, Günesch!" sagt mein Vater.

Anscheinend ist er eine Respektperson. Alle Männer stehen auf.

Ich stehe auf, gehe ich von einem Faschisten zu dem anderen, schüttle ihre glitschigen Hände und versuche das Pokergesicht meines Vaters nachzuahmen.

Bürgermeister, Sicherheitsdirektor, Finanzdirektor, Staatsanwalt, Direktor der Petrol Raffinerie, Direktor der Nationalen Erziehung, Obmann der Handelskammer, Direktor der Wasserverwaltung, Jugend- und Sport -Direktor, Baumwolle- Plantagenbesitzer, Orangen - Plantagenbesitzer…

Gott sei Dank, kein Presse - Fotograf ist anwesend. Wenn die GenossInnen mich hier sehen, würden sie denken, dass ich bei dem Geheimdienst arbeite.

Auch wenn ich wollte, könnte ich nicht in so eine Gesellschaft hineinkommen. Wenn ich jetzt ein Parabellum hätte? Auch ich würde sicher getötet. In dieser fremden Stadt könnte ich nicht weiterkommen. Und spätestens in zwei Tagen würden alle Arschlöcher durch neuere ersetzt. Denn eine Schar von Beamten warten auf ihren Aufstieg. Als Botschafter werde ich sicher nützlicher für den Aufstand sein.

Wir warten und die anwesenden Arschlöcher fressen meine noch wirklich sehr unschuldige Schwester mit den Augen.

Endlich kommt der Provinzgouverneur. Wie er von der Tür herein kommt, verbeugen sich alle Kellner bis zum Boden.

Er setzt sich auf der linken Seite des Tisches auf den "Thronplatz".

Dann steht er noch einmal auf und sagt: "Selamun Aleyküm!"

Alle, samt meinem Vater und mir stehen auf. Der Lakaien -Chor antwortet einstimmig: "Aleyküm Selam!"

Mein Vater macht nur stumme Lippenbewegungen, welche ich als "Leck mich am Arsch!" lese und ich mache ihn nach.

Meine Schwester, die nicht an die islamischen Begrüßungen gewohnt ist, sagt "Selam, salam, sasa!", schaut herum und lächelt fragend.

Das gefällt den Herrn. Ohne zu wissen, was den Herrn so gefällt, schaut meine Schwester noch einmal herum und lächelt wieder fragend.

Zwei Kellner kommen und schreiben die Bestellungen auf.

Wenn die Reihe an ihn kommt, sagt mein Vater: "Drei mal Iskender!"

Iskender ist die osmanische Benennung für Alexander. Hier hat Iskender aber mit Alexander dem Großen nichts zu tun.

Dieser Iskender, eigentlich Iskender Efendi, war Koch im neunzehnten Jahrhundert in Bursa und erfand eine Serviervariante für Döner- Kebap.

Ein Fladenbrot, in Baklava-Würfel geschnitten, liegt auf einem großen Teller. Darauf wird zerlassene Butter -Hier im Markt gibt es echte Butter, nicht nur Crocs/Sana Margarine aus den USA wie in Istanbul- gegossen. Darauf kommen die dünn geschnittenen Döner-Scheiben, darauf Yoghurt und zum Schluss in einer Pfanne gebratene Tomaten und Paprikas.

Die Kellner laufen wie die Jagdhunde. Im Nu sind alle Speisen da. Der Provinzgouverneur sagt "Guten Appetit", der Lakaien Chor wiederholt einstimmig und es fängt die Schmatzerei an.

Mein "Iskender" duftet so herrlich. Schmeckt unglaublich gut. Nach Monate langem Verhungern fresse ich alles wie ein Mähdrescher.

"Noch eine Portion?" fragt mein Vater. Ich schaue ihn an und sage nichts. Wahrscheinlich wurde, seit er Direktor geworden ist, sein Beamtenlohn mehrfach erhöht. Eine Portion Iskender kostet hier so viel wie der Wochenlohn von einem Fabrikarbeiter.

Auch ein Bier dazu wäre sehr gut, aber hier gibt es keinen Alkohol. "Ayran ist auch gut", denke ich, "nur macht es Blähung", und kaue weiter wie ein Perpetuum Mobile.

 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017