Die Birnen

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DIE BIRNEN

 

Es ist wieder Sonntag. Ich sitze allein im Gastgarten, rauche und denke. Noch sind keine Gäste da.

Ernst kommt zu mir und fragt: "Kannst du mir helfen?"

"Was machen?"

"Birnen pflücken.", sagt er.

Birnen? Ich verstehe nichts. Aber ich will seine Distanz zu mir verkleinern, die er seit Anfang hält.

"Ja!", sage ich.

Er bringt zwei Körbe. Ich kenne die großen Rückenkörbe aus der Türkei, die aus Schilf geflochten werden und mit Riemen an die Schulter gehängt werden. Sie sind rund. Diese sind halbzylindrisch, in Weiß und aus Plastik.

Wir hängen die Körbe hinter unsere Rücken und gehen. Auch Rex kommt mit uns.

Nicht sehr weit vom Gasthaus entfernt, sind wir jetzt in einem Obstgarten. Hier gibt es viele Birnenbäume. Es gibt wenige Birnen, die von den Bäumen herunterhängen. Aber die gehören nicht uns. Uns gehören nur die Birnen, die am Boden liegen.

Wir legen uns auf den Boden, stellen die Körbe neben uns. Die Birnen, die am Boden liegen, sind durch den Niederprall vernarbt. Wir picken sie auf, werfen sie in den Korb und krallen wie die kleinen Kinder auf der Erde weiter. Und wir machen das in einer Geschwindigkeit, sowie wenn uns die hungrigen Löwen verfolgen.



 


 

Rex bleibt immer neben mir. Er trägt einen dicken Ast im Maul. Er reibt sich immer wieder an mir und deutet, dass ich seine Last wegnehmen und weiterwerfen soll. Ich tue das nicht, weil ich weiß, was geschehen wird, wenn sein Maul wieder frei wird. Er wird mich so weit abschlecken, dass ich mich sofort duschen muss. Ich habe aber keine Dusche.

Nach etwa zwei Stunden ist nichts mehr am Boden zu finden und unsere Körbe sind ganz voll. Wir hängen die schweren Lasten an unsere Schultern und laufen keuchend zum Gasthaus.

An dem Haus ist eine größere Holzscheune angeschlossen. Bis jetzt habe ich sie nur von draußen gesehen. Jetzt gehen wir hinein.
Drinnen sind Berge von halbfaulen Birnen aufgestaut. Die kann man nicht in einem Geschäft verkaufen. Wahrscheinlich wird aus ihnen Saft ausgepresst. Ich sehe aber hier keine Presse oder eine dazu geeignete Maschine.

Hier gibt's nur eine Badewanne, deren Sinn ich mir nicht vorstellen kann. Ich habe keinen Zugang zu einer Badewanne. Darf ich die benützen? Mir fällt aber auf, dass die Wanne weder einen Wasseranschluss noch einen Abfluss hat. Ich verstehe den Sinn dieses Gegenstands in diesem Schuppen nicht. Aber frage ich nicht.

Wir laden unsere Last ab und laufen mit leeren Körbe weiter. Bald sind wir in einem anderen Garten in der Nachbarschaft.

Auch hier geht es fast zwei Stunden genauso weiter. Dann gehen wir wieder in den Schuppen zurück. Bis zum Dach ist jetzt alles voll.

"Unglaublich!", sagt Ernst. "Ein Türke und derart tapfer."

In der Türkei war ich ein Fremder, weil ich kein Türke war. Hier bin ich ein Fremder als Türke.

"Ich bin kein Türke!", sage ich.

"Auf jeden Fall bist du so fleißig, wie ich mir nie vorstellen könnte.", sagt er. "Ich schätze die tapferen Jungen wie dich."

Er gibt mir hundert Schilling für vier Stunden. Das ist das fünf Fache von dem, was ich in der Fabrik verdiene.

Ab jetzt ist Ernst mir gegenüber nicht mehr distanziert, sondern sogar väterlich.


 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017