Ballade des Vorarlberger Fremdlings

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
BALLADE DES VORARLBERGER FREMDLINGS

 

05. 09. 1971, Samstag, Spätnachmittag
(Aus original Handschrift in einem Schulheft)

 

BALLADE DES VORARLBERGER FREMDLINGS

Arbeiter sind wir!

Als der Hunger klopfte an unser Leben
im Vaterland
steckten wir einen Touristenpass
in unsere Taschen
und kamen abgerissen
aus sooo weitem Nirgends.

Auf unseren dunklen Gesichtern die Sonne der Ferne
sind wir wie die Bäume in Blumentöpfen in Vorarlberg.

Unsere Hände erreichen nichts.
Unsere Zungen bewegen sich nicht.
Wir sind angewiesen auf ein paar Schilinge.

Drei, fünf
acht, zehn
achtzehn Personen
in den zerfallenen Zimmern von Lustenau,
Dornbirn,
Bregenz
kerben wir dreihundertfünfundsechzig mal
unsere Holzkoffer.

Unsere Augen schauen auf Deutschland.
Bestimmt geht vorbei,
Vetter,
was du ein Jahr nennst.
Es wird gnädig sein
dieser Österreicher.
Wir werden gehen Vetter,
bestimmt werden auch wir gehen
nach München
nach Berlin
was weiß ich wohin.

Mark werden wir bekommen
Sohn meines Onkels
Mark!
Das ist Mark, Mann
leicht nur zum Aussprechen.
Das ist Mark, Mann
Mark!
Vierhundertzwanzig Kuruschs
schau
nur ein Stück davon.

Mark werden wir schicken in die Türkei.

Unsere Augen schauen auf Deutschland.
Erim´s(1) Augen schauen auf uns
-möge er sie verlieren-.
Mark werden wir schicken in die Türkei,
Mark.
Zinsen werden sie bezahlen an Amerika.
Die Stiefeln des Faschismus werden sie polieren damit.

Europa, was?
Europa!
Aber was ist das für ein Leben, das unsere?
Wir füllen die Schiflis
In der Strickerei Fabrik
all die Tage Gottes.
Wir zählen die Tage Gottes
und füllen das tägliche Leid mein Vetter, in das Folterfass.
Zwei, drei tausend Schilling
unser Monatslohn.
Zehn, fünfzehn Schilling eine Packung Tabak.

Vorbei gehen werden die Tage,
vorbei!
Hab Geduld!
Es wird zu Ende gehen!

Wenn Samstag kommt
oder Sonntag
stellen wir uns an die Reihe wie die Sebilhane(2) - Becher
vor die Bahnhöfe
manche von uns denken an die Fräulein
mancher an seine Geliebte.

Wenn wir die Augen zu machen
hören wir den Baglama(3) - Klang
von der Ferne.
Sowie
es schlüpft durch die Wolken
hinunter
ein Baglama-Klang.
Erscheinen unsere Mütter vor uns
unsere Schwestern.
Zwei Tränen fallen hinunter
über unsere Wangen.
Wir verstecken sie!
Soll nicht sehen
der Sohn der Fremden!
Soll nicht sehen unsere Sehnsucht!
Soll nicht sehen
wie welken
die Blumen in unseren Herzen!

Wenn es Nacht wird,
in unseren Träumen
streicheln wir mit unseren dicken,
behaarten Fingern
blonde Haare der
schneeweißen Fräulein.

Frag mich nicht wie es mir geht!
Bei mir ist es anders!
Ich schaue auf die grünen Berge
Österreichs
und denke an meine eigenen nackten Berge.
Wut und Liebe
werden ein rotes Feuer in meinem Herzen.
Wenn du meine Augen berührst
verbrennen deine Hände.
Die Gefecht Geräusche mischen sich mit dem
Klang vom Saz(4)
und die Hoffnung füllt mein Herz, Vetter.

Freiheit, ich liebe deine Augen!
Freiheit!
Meine Geliebte!
Unheil meines Kopfes!
Bestimmt werden wir Dich holen
von unseren Bergen hinunter.
Mit Gewehrsalven werden wir ankündigen
an die ganze Welt:
"Auch wir sind frei!
Auch wir sind frei ab jetzt,
achh!
Wir haben niedergeschlagen den Faschismus!
Wir haben nach Hause geschickt den Imperialismus.

Frag mich nicht wie es mir geht!
Ich bin ein verliebter Dichter.
Und ein blindlings verliebter.
Schlimmer als die blinde Liebe.

Es reicht diese Sehnsucht!
Zu Ende gehen soll dieses Leid!
Es ist genug!
Und bis zur "National Demokratischen Revolution"
enden alle Gedichte mit dem Spruch
"Nieder mit dem Amerikanischen Imperialismus,
es lebe die vollkommen unabhängige
demokratische Türkei!" (5)


 

(1) Nihat Erim. Nach dem Militärputsch 1971-1972 Ministerpräsident der faschistischen Diktatur.
(2) Sebilhane. Öffentliche Wassertrinkschenke, die von den wohlhabenden Gläubigen gestiftet wird.
(3) (4) Baglama. Saz. Langhalslaute. Verwandt mit Buzuki.
(5) "National Demokratische Revolution" war am Ende der sechziger Jahre die herrschende Strategie in der Dev-Genç (=Revolutionäre Jugend). Nach Beispiel von Mao würden wir zuerst von dem USA-Imperialismus und Feudalität befreit. In dieser Epoche würden die nationale Bourgeoisie und die anti-imperialistische türkische Armee Verbündete der Revolutionäre. Um diese nicht zu verscheuchen, würden wir das Selbstbestimmungsrecht der in der Türkei lebenden Völker außer Acht lassen. Die sozialistische Revolution würde nachher kommen. Die "Vollkommen unabhängige demokratische Türkei" war die Parole dieser Strategie. Da ich weder an die Existenz einer anti-imperialistischen Armee noch eines Tschiang Kai-schek in der Tüekei glaubte, distanzierte ich mich bereits in der Türkei von dieser Strategie. Jedoch um nicht eine Verwirrung in der Wahrnehmung der Arbeiter aus der Türkei zu verursachen, verwendete ich in diesem Gedicht diesen weit verbreiteten Slogan.


 

 
 
was bisher geschah
weiter lesen
start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017