Das große Tor

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
DAS GROSSE TOR
 
Sigmundsherberg, 08. 09. 2019

 

Zwanzig Jahre später.

1974.

Sommer.

Sonntag.

Wien.

Heute muss ich nicht arbeiten. Oder, heute will ich nicht arbeiten.

Weil ich wieder bis über beide Ohren verliebt bin und unglücklich. Sonst würde ich bei ihr sein.

Mit der "Stadtbahn" bin ich bis Heiligenstadt gefahren. Steige hier aus.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, woher ich meinen "Doppler" Rotwein habe. Den schleppe ich mit mir.

Damals rauchte ich die Zigaretten Marke "Flirt". Mit einem "Jugendstil" Bildnis auf der Packung. Ich habe sogar zwei Packungen bei mir. Eine ist bereits geöffnet.

Ich gehe sehr lang. Mit dem "Liebt sie mich, liebt sie mich nicht?" kann ein junger Mann sehr lang gehen.

Es wird immer grüner und immer hügeliger. Wahrscheinlich bin ich irgendwo nahe Kahlenberg. Oder woanders?

Hier gibt's keine Menschen. Ich suche einen Baum. Es gibt einige aber nicht viele. Ich gehe zum nächsten.

Jetzt sitze ich im Schatten unter der Eiche. Der Weinöffner hängt neben meinen Schlüsseln an dem Schuhlöffel meines Vaters. Ich mache meine Weinflasche auf.

Hier ist es wunderschön. Ich zünde mir eine Zigarette an. Nehme einen Schluck von dem Wein.

Rundherum um mich ist die Ruhe. Nur die Zikaden. In großer Orchesterbesetzung. Ich höre ihr unendliches Konzert.

Bei der zweiten Belagerung Wiens war ein Teil des osmanischen Heeres hier gelagert. Sie müssen einen Heidenlärm gemacht haben. Ich bin so froh, dass sie jetzt nicht mehr da sind.

Was wäre, wenn Wien damals gefallen wäre? Möchte ich mir nicht vorstellen. Auf jeden Fall könnte ich vor ein paar Jahren nicht nach Österreich flüchten.

Ich sitze auf einem ziemlich hohen Hügel. Ich sehe von hier ein sehr breites Panorama. Vor mir geht ein Tal ziemlich weit, immer tiefer, hinunter.

Ganz tief unten sehe ich eine Kirche. Vor der Kirche geht sogar eine Straße vorbei.

Wie heißt diese Kirche? Weiß ich nicht. Wahrscheinlich Barock.

Warum haben die Leute in einem menschenlosen Tal eine Kirche errichtet? Weiß ich nicht.
Auf jeden Fall scheint die Kirche in diesem Moment so einsam wie ich zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand außer mir so einen weiten Weg in Kauf nimmt, diese Kirche zu besuchen.

Auf einmal kommt Bewegung ins Bild:

Ganz rechts auf dem sichtbaren Ende der Straße tauchen Ameisen auf und marschieren in Richtung Kirche. Entweder bin ich bereits betrunken oder kommen die Janitscharen zurück.

Ich richte mich auf und schaue.

Es geht sehr langsam aber sie kommen immer näher zu der Kirche. Es ist keine Ameisenkolonne. Es sind Kinder.

Jetzt stehen alle Kinder vor der Kirche. Jetzt bilden sie eine lange Schlange. Rundherum laufen Erwachsene wie die Schäferhunde.

Jetzt stehen sie vor dem Kirchentor. Das Kirchentor ist so hoch, dass zwei Zirkusreiter übereinanderstehend hineinreiten könnten.

Aber die Kinder sind sooo klein!

Ich erinnere mich sofort an meinen ersten Schultag.

Ich möchte schreien:

"Kinder! Geht nicht durch dieses Tor hinein.
Das ist das Maul des Monsters, das euch verschlingen will. Es wird euch verdauen. Wenn ihr wieder herauskommt, seid ihr nur ein Stück Scheiße!

"Kinder! Geht nicht durch dieses Tor hinein.
Danach seid ihr nicht mehr Jungfrauen. Mit der Unschuld ist es vorbei. Drinnen werdet ihr eure Hände in den Dreck stecken müssen."

"Kinder! Geht nicht durch dieses Tor hinein.
Dieses Monster heißt "Obrigkeit".
Die Obrigkeit ist wie die russische Puppe. Über und unter dieser "Obrigkeit" sind andere Obrigkeiten. Wenn die Obrigkeit euch schluckt, gibt's kein Entkommen."

"Kinder! Geht nicht durch dieses Tor hinein.
Wenn ihr durch dieses Tor hinein geht, ist das Leben beendet. Ab jetzt gibt's nur Arbeit, Leid, sogar Tod für die Obrigkeit.
Drinnen werdet ihr lernen, für Alles, was von der Obrigkeit kommt, dankbar zu sein.
Sie werden euch brechen. Ihr werdet euch nie mehr gegen die Obrigkeit widersetzen."

Aber ich bleibe stumm.

Ich möchte mit meinen Armen große Bewegungen machen, sowie wenn über meiner einsamen Insel endlich ein Doppeldecker fliegen würde.

Aber ich bleibe starr.

Sind jemals zwei Zirkusreiter übereinander durch dieses Tor geritten? Wahrscheinlich nicht. Warum sind die Tore der Obrigkeiten so hoch?

Damit die Kinder lernen, dass sie zu klein sind, sich gegen die Obrigkeiten zu wehren.

Die ersten Kinder gehen hinein. Etliche Kinder sind bereits durch dieses große, dunkle Loch durch gegangen. Jetzt bin ich vor dem Tor.

Ich möchte stehen. Hinter mir drücken mich die anderen Kinder nach vorne. Es gibt kein Entkommen. So komme ich nahtlos hinein.

 
 
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start: 02 septembre 2019, up-date: 02 septembre 2019