Vor dem Tor der Schule

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
VOR DEM TOR DER SCHULE
 
Sigmundsherberg, 06. 09. 2019
 

 

Es ist sehr früh.

Meine Mutter macht meine Tür auf. Ich bin bereits wach. Im Vorraum sitzt mein Vater mit einem Unterhemd und rasiert sich. Vor ihm steht ein tragbarer runder Spiegel.

Meine Mutter holt ein frisches weißes Hemd. Er zieht das an und geht ins Schlafzimmer zum großen Spiegel. Er kommt mit gebundener Krawatte heraus:

"Ich muss jetzt in die Arbeit. Deine Mutter wird dich in die Schule bringen. Die Schule wird dir sicher gefallen. Freue dich, jetzt beginnt für dich ein neues Leben."

Er hat einen Schuhlöffel aus Messing. Das ist seit einigen Jahrzehnten mein Schlüsselanhänger. Er zieht seine Schuhe an. Meine Mutter kniet sich hin und bürstet seine Schuhe.

Er geht.

"Jetzt müssen wir uns beeilen", sagt meine Mutter.

Meine Mutter läuft hastig herum, trägt Gegenstände und bringt sie auf meinem Körper an, zieht sie herum, geht ein paar Schritte zurück, schaut mich an, richtet weiter, geht wieder zurück…

"Jetzt brauche ich mich nicht zu genieren!", sagt sie.

Sie sperrt hinter uns die Tür zu.

Wir gehen durch den Rosengarten. Jetzt ist auch das Eisentor hinter uns. Wir gehen nach rechts bis zur Geschmückte-Pappel-Straße.

Die schwere Ledertasche in meiner linken Hand, halte ich mit meiner rechten die Hand meiner Mutter sehr fest.

Aus den Seitengassen, aus dem Brachland kommen immer mehr schwarze Enten. Manchmal allein, manchmal zwei oder drei gemeinsam. Bei manchem Einzelgänger sind auch Mamas dabei.

Hinter uns Enten, vor uns Enten. Es gibt kein Entkommen. Ich halte die Hand meiner Mutter noch fester.

Verloren in Mitten einer immer länger werdenden Reihe kommen wir bis zur Kreuzung.
Links vor uns die Schule.

Vor der Schule stehen hunderte schwarze Enten, oder schwarze Schafe? Alle tragen weiße Hundehalsbänder.

Die Kinder vor der Schule stehen ohne Bewegung und machen keine Geräusche. Wir stellen uns hinter die anderen Kinder. Meine Mutter zieht ihre Hand zurück und geht nach rechts.

Ich fange an zu zittern. Jetzt bin ich völlig verloren.

Rechts und links von uns stehen einige Frauen. Mütter der Kinder wahrscheinlich. Auch ein paar Männer, aber sehr wenige. Viele Kinder sind wahrscheinlich bereits erfahrene Schüler. Sie stehen da ohne Begleitung.

Hinter den Kindern sehe ich den oberen Teil des Schultors. Es ist sehr hoch und ganz oben gewölbt. Früher haben sie die Tore der wichtigen Häuser so gebaut, dass man auf einem Pferd ein- und aus reiten konnte.

Vor dem Tor stehen ein paar Männer und Frauen. Wahrscheinlich sind sie die sogenannten "Ögretmen" (=Lehrer).

Auch hinter diesen Leuten sind Menschen versammelt, Geschäftsleute, Passanten…

 

Der erste faschistisch-rassistische Diktator des zwanzigsten Jahrhunderts

 

Auf der rechten Seite des Tors ist ein hoher Tisch auf drei Beinen. Darauf liegt ein knallrotes Tuch. Ich werde bald erfahren, dass es die "Türkische Fahne" ist. Auf dem Tisch steht der Kopf eines Mannes. Der Kopf ist schwarz. Hat eine Nase wie eine große Kartoffel. Und er hat nur einen Hals, aber keinen Körper, nicht einmal Arme.

Er macht mir Angst, aber ohne Beine kann er sich nicht bewegen. Auch andere Kinder bleiben ruhig. So werde ich versuchen, meine Angst nicht zu zeigen.

Vor dem Tor ist Bewegung. Die Lehrer kommen zu uns, rechts und links, gehen bis ganz hinten, flüstern irgendetwas, was ich nicht höre. Die erfahrenen Schüler wissen, was zu tun ist. Die Herde der schwarzen Schafe kommt in Bewegung.

Vor mir gehen die Kinder nach rechts und links und wir sind jetzt immer zwei neben einander. Jetzt sind wir zwei lange Schlangen.

Die Lehrer stellen eine Kiste vor das Tor. Der Mann mit der Glatze steigt darauf. Jetzt ist er größer als alle anderen.

"Mesafe al!" (= Nimm Abstand!), schreit er.

Alle Kinder legen ihre Hände auf die Schulter der vor ihnen stehenden Kinder.

"Hazir ol!"(= Hab Acht!)

Alle Kinder stehen kerzengerade und machen Lärm mit ihren Füßen. Da ich keinen Militärdienst absolviert habe, weiß ich noch immer nicht, wie sie diesen Lärm machten.

Bald würde ich erfahren, dass der glatzköpfige "Müdür Bey" (=Herr Direktor) heißt.

Jetzt schreit er, wie wenn der Barbier seine beiden Ohren mit zwei Rasiermessern gleichzeitig schneiden würde:

"Türküm!" (=Ich bin Türke!"

Türke? Nie gehört. Was ist das?

Lehrer und Lehrerinnen angeschlossen, schreien alle nach: "Türküm!"

"Doğruyum" (=Ich bin gerade!)
"Ich bin aufrichtig" war gemeint.

Weil alle schreien, schreie auch ich. Ich höre aber meine Stimme nicht.

"Çalışkanım" (=Ich bin fleißig!)

Wieder schreien alle. Da ich meine Stimme selbst nicht höre, hören sie wahrscheinlich auch die andere nicht. So blöd herum schreien tut meinem Hals weh. Ich tue nur mit meinen Lippen so, wie wenn auch ich schreie.

"Yasam:" (=Mein Gesetz")

Was ist denn das wieder? Osmanisch hieß "Gesetz" "Kaanun". Vom griechischen Wort "Kanon" abgeleitet. Das kenne ich bereits. "Yasa" ist als "Neutürkisch" statt "Gesetz" erfunden worden. Neutürkisch werde ich bald lernen. Mein Vater hat mich bereits vor "Neutürkisch" gewarnt. Aber um ein Maschinenbauingenieur zu werden, muss ich diese komische Sprache lernen.

"Küçüklerimi sevmek!" (=Die lieben, die kleiner als ich sind!)

"Büyüklerimi saymak! (=Die respektieren, die größer als ich sind!)

"Yurdumu" (=Meine Heimat,)

"Vatanımı" (=Mein Vaterland)

"Heimat" und "Vaterland" habe ich noch nie gehört.

‚Canımdan çok sevmektir!' (=Mehr lieben als mein eigenes Leben!)

Moment! Diese Dinge, was sie immer sind, "Heimat" und "Vaterland", soll ich mehr lieben als mein eigenes Leben? Muss ich das, um ein Maschinenbauingenieur zu werden?

"Varlığım," (=Mein Dasein,"

(Wieder ein komisches neutürkisches Wort, vielleicht "Mein Leben?".

"Türk varlığına"; (=für Dasein des Türk)

"Armağan olsun!" (soll ein Geschenk sein!)

Was heißt das alles?

Ich habe Angst.

Wollen sie mich umbringen?

Wo haben mich meine Eltern hingebracht?

...

Es ist anscheinend fertig.

Ein paar Passanten am Gehsteig applaudieren. Aber nicht alle.

Müdür Bey geht hinunter. Die Lehrer bringen die Kiste ins Haus.

Auch den schmalen, hohen Tisch mit dem schwarzen Kopf nehmen sie hinein.

Hinter dem großen Tor ist es dunkel!

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ein paar Kinder gehen hinein. Ich will stehen bleiben. Die Kinder hinter mir drücken mich aber weiter nach vorne.


Reşit Galip
 
Notiz des Historikers Dr. Memo Schachiner:


1923 wurde die erste rassistische Diktatur der Welt, "Republik (!) Turkiya" proklamiert.

1932 ernannte Diktator Atatürk, den Reşit Galip , alias Mustafa Reşit Baydur aus Rodos (heute Griechenland), als "Minister für Nationale Erziehung".

Reşit Galip schrieb den oben erwähnten rassistischen Schwur.

1933, zum zehnten Jahrestag der Gründung befahl er per Dekret, dass die Schülerinnen jeden Tag in der Früh, bevor der Unterricht beginnt, diesen Schwachsinn als Chor inbrünstig schreien müssen.

 
 
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start: 02 septembre 2019, up-date: 02 septembre 2019