In der Schule

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
IN DER SCHULE
 
Sigmundsherberg, 12. 09. 2019



Trotz aller meiner Ängste bin ich jetzt bereits in der "Schule" gelandet.

Zuerst ist hier alles dunkel. Nach ein paar Sekunden gewöhnen sich meine jungen Augen an die neuen Lichtverhältnisse.

Nach dem Tor ist ein hoher, aber kleiner Vorraum.

Hier könnte ein Reiter auf seinem Pferd stehen aber nicht weiter reiten. Denn gleich gegenüber mir geht eine Treppe hinauf. Links vor der Treppe steht der schwarze Kopf des Teufels auf seinem dreibeinigen Tisch.

Einige SchülerInnen laufen gleich über die Treppe hinauf. Sie sind wahrscheinlich die "Erfahrenen".

Von der rechten Seite kommt eine Frau. Sie dürfte ungefähr so alt sein wie meine Mutter oder ein wenig älter. Sie lächelt freundlich. Das mildert meine Angst sofort.

"Kinder! Willkommen in der Schule. Bitte die neuen mit mir kommen."

Wir drehen vor der Treppe nach rechts. Nach zwei Schritten bricht ein scharfer Geruch mein Nasenbein. Rechts von mir ist eine offene Tür. Das ist die erste öffentliche Toilette, mit der ich Bekanntschaft mache.

Wir gehen weiter. Nach ein paar Schritten kommen wir zu einer anderen Tür, diesmal links von uns.
Sie geht dort hinein und sagt "Bitte kommt hier weiter herein!"

Die Kinder vor mir gehen hinein. Dann auch ich. Links vor mir stehen einige Holztische. Einige neben einander, immer mit einem Gang dazwischen.


Foto: "Schulbänke", gefunden im Internet. Quelle: Unbekannt

 

Jeder Tisch ist für zwei Kinder gemacht. Hinter jedem Tisch ist eine hölzerne Sitzbank.

Hinter dem vorderen Tisch und Sitzbank Paar sind noch einige bis zur hinteren Wand gereiht.

Wenn ich da so stehe, dass ich die Tische sehe, setzt sich zu dem zweiten Tisch von der rechten Wand, auf der Wandseite, gerade ein ganz kleines Mädchen hin. Sie ist so klein, dass sie sicher nicht gefährlich sein kann. Ich setze mich gleich neben ihr in der Richtung der Mitte. Also sitzen wir ganz vorne.

Ich sitze immer zur einer Gangöffnung, um jederzeit flüchten zu können.

Rechts von mir sind wieder zwei Tische.

Die Tische haben oben ganz vorne Rillen. Später werden die Schreibutensilien darauf kommen. Das weiß ich noch nicht. Und unter dem Tisch ist ein Fach. Hier kommt die Schultasche hinein.

Gegenüber uns steht die "Öğretmen" (=Lehrerin). Hinter ihr an der Wand hängt eine schwarze Tafel.

Über der Tafel hängt ein Bild. Ein Mann schaut bedrohend auf uns. Er hat blonde Haare, wie ich früher gehabt habe. Blonde Haare haben nur sehr wenige Menschen.

Seine Augen sind blau. Das gibts auch nur selten.

Und er hat eine Kartoffelnase. Ist er derselbe Mann mit dem schwarzen Kopf? Dieser hat aber auch Arme.

Von mir aus gesehen ganz links um die Ecke ist ein höherer Tisch, das heißt "Kürsü" (=Pult).

Ganz rechts um die Ecke, gleich nach der Tür ist ein Kohleofen.

Die Lehrerin steht fast vor mir.

"Liebe Kinder!", sagt sie. "Willkommen in der Schule. Ich bin eure Lehrerin. Ab jetzt sagt ihr zu mir "Öğretmenim!" (=Meine Lehrerin!)."

Sie duftet so schön, dass ich sofort ziemlich berauscht bin.

Necla Abla (die ältere Tochter von meinem Dede, die Chemikerin) hat so gerochen. Dass es der Duft eines Parfüms war, wusste ich damals nicht.

Sie geht nach rechts und links. Wenn sie sich von mir entfernt, wird der Duft schwächer. Jetzt steht sie wieder vor mir. Soll ich sie festhalten? Darf ich das?

"Liebe Kinder! Habt ihr dieses Bild oben an der Wand gesehen? Weiß jemand, wer er ist?"

Stille.

"Er heißt Atatürk! Er ist der sehr geliebte Vater von uns allen!"

Wer ist er? Ist er der Gott, von dem meine Mutter immer wieder redet? Gibt es ihn wirklich?

"Das hier ist die 'Karatahta' (=die schwarze Tafel).

Sie dreht sich um, nimmt etwas Weißes in die Hand und zeigt es uns:

"Das ist "Tebeşir (=Kreide). Mit ihr kann man auf der Tafel schreiben."

Sie dreht sich um und macht ein Zeichen an der Tafel.

"…Und wieder löschen!"

Sie reibt die Tafel mit einem kleinen Fetzen. Es staubt. Das Zeichen ist weg.

In der Schule gibt's wirklich einiges, dass ich vorher nie gesehen habe. Ich werde alles lernen, um ein Maschinenbauingenieur zu werden und meine Eltern von der Armut zu retten.

Die Tür geht auf. Ein älterer Mann kommt herein. Er hat einen Eimer und eine Schaufel mit. Macht die obere Tür vom Ofen auf und wirft die Kohle hinein. Er geht wieder hinaus und macht die Tür zu.

"Das ist Onkel Ibrahim." Sagt die Lehrerin. "Er ist unser Hademe (= Diener)."

Später erfahre ich, dass der "Hademe" in einer Kammer mit einem Glas Fenster gleich nach dem Schultor sitzt.

Er hat viele Aufgaben. Seine wichtigste Aufgabe ist, dass er dafür sorgt, ab Schulbeginn 9.00 Uhr in der Früh bis 5.OO Uhr am Nachmittag kein Kind hinaus flieht.

Die Lehrerin hebt den Zeigefinger ihrer rechten Hand hinauf.

"Das ist Finger aufheben. Falls ihr mich etwas fragen wollt, müsst ihr den Finger aufheben."

"Auch wenn ihr auf die Toilette gehen müsst, müsst ihr den Finger aufheben. Buben können ihr Kleines an der Wand machen. Gegenüber der Wand gibt's mehrere kleine Türen. Für Großes müsst ihr da hinein gehen. Mädchen müssen für Großes und Kleines hinein gehen".

"Während dem Unterricht dürft ihr untereinander nicht reden.

Auf einmal schreckt mich ein sehr lautes Geräusch. Das ist die "Teneffüs (=Atmen) - Glocke), also Ankündigung der Unterrichtspause.

"Wer muss, kann jetzt auf die Toilette gehen" sagt die Lehrerin.

Ich gehe dorthin. Mache eine der Kammertüren auf. Der Gestank ist unerträglich. Rundherum des Lochs ist überall Scheiße. Und eine Wolke von Fliegen.

In den folgenden fünf Jahren habe ich diese Tür nie mehr aufgemacht.

Ein paar Buben gehen an die Wand. Sie stehen dort und holen ihre kleinen Pimmeln heraus. Ich stehe neben Ihnen, schaue zu und tue dasselbe. Die Wand gegenüber uns ist voller grüner Algen. Urin rinnt darunter. Unten ist eine Rille im Beton. Das Ganze fließt nach links, zu einem Loch. Ein paar Mal am Tag gießt der Hademe einen Eimer Wasser in diese Rille.

Die meisten Schüler sind bereits nach rechts geflohen. Wenn man unter der Treppe nach rechts geht, kommt man zu der Garten Tür. Sie ist offen. Der Garten ist viel größer als derjenige vor unserem Haus. Aber besteht genauso aus gestampfter Lehmerde.

Ich bleibe mit ein paar Neulingen gleich neben der Tür. Die erfahrenen SchülerInnen gehen weiter.

Wenn man weiter geht, ist ganz links am Ende eine Wellblech-Abgrenzung. Das Wellblech ist so hoch, dass Die LehrerInnen hinaussehen können, aber wir nicht.

Ich erinnere mich an Psamatia. Auch dort hatten wir hinter dem zweistöckigen Holzschloss einen kleinen Hof gehabt. Auch dort waren solche grauen Wellblech-Zäune. Ich habe ein einziges Mal da hinausgesehen, wie mein Onkel Saim mich auf seine Schultern setzte.

In diesem Hof habe ich mit eineinhalb Jahren meinen ersten grammatisch kompletten Satz, aber mit kindlicher Aussprache gesprochen. Mein Vater hat sich das für immer gemerkt:

"Dışaydan bi ses geliyo. Azaba nediy?"
(=Von draußen kommt ein Klang. Fraglich, was das sein kann?)

Erfahrene SchülerInnen gehen Richtung des Blechzauns. Aber kein Kind steht dort. Den Zaun zu nahekommen ist verboten.

Ein paar männliche Lehrer marschieren hin und her. Die Kinder bewegen sich langsam und leise.

Wenn ich heute an den Schulgarten denke, fällt mir ein Bild ein:


 

Kaum fange ich an, den Schulhof einzuorten, schrillt die Höllenglocke. Alle Kinder laufen sehr schnell wieder hinein.

Ich setze mich wieder neben das kleine Mädchen.

Die Lehrerin erzählt weiter:

"Eure Schule hat fünf Klassen. Ihr seid jetzt in der ersten Klasse".

Sie duftet unausstehlich.

Noch ein paar Mal Höllenglocke, Hof, zurück…

Noch einmal Glocke.

Die Lehrerin sagt:

"Jetzt gehen wir in das "Yemekhane" (=Essenshaus).

 
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start: 02 septembre 2019, up-date: 02 septembre 2019