Merhaba Pferd

 
Volksschule "Zihni Pascha"
Roman
 
MERHABA PFERD
 
Sigmundsherberg, 28. 11. 2017
 
   
 

Als ich jung war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich so alt werden könnte, wie ich jetzt bin. Der "MIT", so heißt der skruppellose Geheimdienst der sogenannten "Republik" Türkei, war hinter mir her. Ich konnte in der Türkei mehrmals dem Kugelhagel entlaufen. Auch nach meiner Flucht nach Österreich haben sie mich weiter verfolgt. Die Löcher der Kugeln an der Mauer des Insbrucker Bahnhofs dürften längst wieder verputzt sein.

Ich rechnete jeder Zeit mit dem Tod. Vor dem Tod fürchtete ich mich damals nicht. Wovon ich mich fürchtete war, dass sie mich lebendig erwischen und unter Folter umbringen.

Ich werde im Sommer 70. Warum sollen sie so einen alten Krüppel wie mich weiter verfolgen? Jetzt brauchen sie Frischfleisch und laufen hinter neuen Opfern nach.

Jetzt sitze ich nicht mehr in dem "Sarg" genannten Zellen des Geheimdienstes, sondern in meinem eigenen Haus gefangen. Wenn niemand mich hinaus trägt, kann ich das Haus nicht verlassen.

Ich will immer wieder von meinem Rollstuhl aufstehen, auf mein Fahrrad steigen und zur nächsten Stadt hin fahren. Oder ich will aufstehen und meinen Kopf so lange an die Mauern hauen, bis ein großes Loch entsteht und ich durch das Loch hinaus fahre.

Ehrlich gesagt, bin ich seit langem nicht mehr im Stande, meinen Alltag zu bewältigen. Ich schaffe es nicht mehr.

Aber "es" schafft es.. Es findet immer wieder neue Taktiken, mich zu zwingen, dass ich dieses Elend weiter ertrage.

Dieser Roman hat mit einem Traum angefangen. Seit dem bin ich ein Schulkind. Ich träume davon. Ich träume davon auch wenn ich wach bin.

Vor einer Woche habe ich meine Kisten ausgeleert und alte Fotografien auf meinen Schreibtisch gehäuft. Ich habe sie früher nicht gepflegt aber durch die Zeiten aufbewahrt. Im Laufe der Jahrzehnte sind sie immer mehr geworden.

Jetzt sortiere ich sie und klebe sie auf die weissen Blätter der neu gekauften Fotoalben. Ich habe auch sogenannte "Fotoecken" gekauft. Meine Finger zittern, meine Augen sehen schlecht und ich komme sehr langsam weiter.

Ich klebe ein Foto nach dem andern.

Jetzt ist mein Holzpferd an der Reihe. Meine Mutter hat das Gerümpel weiter ausgepackt und mein Pferd heraus geholt.

"Merhaba Pferd!".

Ich weiss, das antwortet nicht. Auch mein früheres Pferd, mein krankes Pferd, hat nicht gesprochen. Aber es hat ständig geschrien wenn ich es ritt. "Piiiiiiik! Gartsch!, Piiiiiiik! Gartsch!, Piiiiiiik! Gartsch!..." Ich habe es als einen alten Sessel gefunden. Seine Beine waren kaputt, das Schilfgewebe auf seinem Hintern war völlig zerfranzt. Ich habe es in die richtige Stellung gebracht und zu einem lebendigen Pferd umgewandelt.

Ihm tat alles weh. Wenn ich es nicht ritt tat ihm auch alles weh, aber konnte es nicht schreien. Wenn ich es ritt schrie es: "Piiiiiiik! Gartsch!". Wenn es schrie, wurden seine Schmerzen erträglicher. Ich ritt es mit voller Kraft. Dazu sang ich die erste Komposition meines Lebens: "za- ga- da, za- ga- da, za- ga- da, zak- Pause". Wie ich auf drei viertel Takt kam, weiss ich nicht.

Ausserdem war meine Großmutter dabei. Sie schrie "Hüüü! Hot!", oder ähnliches. Auch das Radio feuerte uns an. Damals war "Korea Krieg". Das Radio sagte jeden Tag die Namen der von uns nach Korea gesandten Männer, die zu der Ehre eines Märtyrers aufgestiegen waren.

Das bedeutete, dass sie nicht mehr sehen können, nicht mehr hören können, und in ein Erdloch geschmiessen und mit der Erde zugeschüttet werden. Unser Ministerpräsident bekam von dem Amerikaner ein paar Dollar Cent für jeden Märtyrer.

Aber die Märtyrer hatten auch Großmütter. Und die Grossmütter weinten. Darum beauftragte mich meine Großmutter damit, dass ich möglichst schnell nach Korea fahre und dem Koreaner sage, dass die Großmütter weinen und dass er nicht mehr aus unseren Jungen Märtyrer macht. Ich ritt schneller. Das Radio zählte weiter auf: Arabisch-islamische Namen, griechische Namen, armenische Namen. Unser Ministerpräsident bekam für jeden Märtyrer Geld, er rieb sich die Hände und ich ritt noch schneller.

Als ich dieses gesunde Holzpferd bekommen habe, wohnten wir in einer Bauhütte in Suadiye. Ich war fünf Jahre alt. Wenn es vorher fünf Jahre Ladenhüter gespielt haben sollte, musste das Pferd jetzt genauso alt sein wie ich. Es ist aber nach wie vor ganz jung. Keine Spur von einer Alterung. Es ist wie immer ganz bunt und riecht noch immer nach Terpentinlack. Mein krankes Pferd hat nach Holzwürmern gerochen. So wie das ganze Holzhaus meiner Großmutter. Das war ein angenehmer Geruch, ein warmer Geruch. Ich konnte die Holzwürmer sogar bei ihrer Arbeit hören.

Jetzt sitze ich auf meinem jungen Pferd aber ich reite nicht. Ich denke. Meine Mutter denkt auch immer wieder. Wenn sie denkt, hält sie ihre Hände weit von ihrem Körper, als ob sie sehr schmutzig wären und sie ihr Kleid schonen wolle. Und schaut irgendwohin in die Luft. Was denkt sie? Ich denke, wenn ich mich genung anstrenge, kann ich ihre Gedanken sehen. Wie schauen ihre Gedanken aus? Wie eine Ameisenkolonne? Eher wie die weissen, kleinen Schmetterlinge, die in der Luft herumhupfen und nicht wissen wohin, denke ich.

Ich denke jetzt. Seit ich fünf jahre alt bin, denke ich immer wieder, warum meine Eltern meine Eltern sind. Meine Mutter hat mir bereits erzählt, wenn ein Mann und eine Frau heiraten, bekommen sie bald ein Kind. Wer bringt die Kinder in die jungen Familien? Woher? Das alles werde ich erfahren, wenn ich erwachsen bin. Und warum hat der Kinderbringer gerade mich zu diesen Eltern gebracht?

Wie es ausschaut, wird die heiße Juli Sonne jeden Tag scheinen. Der Jasminbaum wird immer duften. Mein Vater bringt jeden Abend Brot und meine Mutter kocht jeden Tag Suppe. Alles bleibt immer gleich.

Nur ich verändere mich. Ich werde immer größer. Und meine platin blonden Haare werden immer dunkler. Und mir fehlt nichts um weiter da zu sein.

Trotzdem stimmt etwas nicht: Warum gerade ich? Warum gerade meine Eltern? Ja, sie versorgen mich. Aber könnten sie nicht genauso ein anderes Kind versorgen?

Hätte ich gerne andere Eltern? Ich kenne wenige Erwachsene. Früher, wenn meine Mutter mich im Kinderwagen hinaus brachte, wirkten meine blonden Locken wie ein Magnet auf die Erwachsenen. Ja, sie kamen zu mir und zwickten mich. Sie zwickten meine Wangen, meine Arme, meine Beine. Ich wusste, dass sie "Fremde" sind und wollte nicht, dass die Fremden mich berühren. Meine Mutter war nicht fremd. Das wusste ich.

Seit langem hat meinen Körper niemand berührt. Ausser Krankenschwestern und Krankenpflegern. Sie reinigen mich, sie pflegen mich. Aber ich mag nach wie vor nicht, dass die "Fremde" mich berühren.

Ich denke an alle Männer und Frauen, die ich bereits kenne, in der Rolle meiner Eltern. Nein, meine Eltern sind mir angenehmer als alle anderen.

Trotzdem kenne ich meine Eltern nicht. Ich weiss, was sie jeden Tag machen. Sie machen immer dasselbe. Aber ich weiss nicht, was sie denken.

Wenn meine Mutter mich streichelt, denke ich, dass wir uns lieben. Da denke ich nicht. Und wenn ich denke, fühle ich mich nicht wohl. Ich halte meinen Atem an. Mir geht die Luft aus. Dann laufe ich davon. Wohin? Egal!

Wenn ich nach links, entlang des großen Hauses gehe, komme ich in den Rosengarten. Da darf ich aber nicht hin.

Und nach rechts? Das Haus entlang ? Das haben sie mir noch nicht verboten. Was gibts dort?

 
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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016