Guten Morgen Jasminbaum

 
Volksschule "Zihni Pascha"
Roman
 
GUTEN MORGEN JASMINBAUM
 
Sigmundsherberg, 21.11. 2017
 
   
 

 

Ich war gestern Abend sehr müde. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich eingeschlafen bin.

Ich wache auf. Heisse Juli Sonne bewegt sich auf weissen Wänden meines Zimmers in schimmernden Streifen.

Ich stehe auf. Mein Vater ist bereits lange nicht mehr da. Er geht jeden Tag in der Früh an seine Arbeit.

Seine Arbeit ist drüben, in Istanbul, dort ist Europa. Dazwischen ist das Meer.

Auch meine Mutter arbeitet. Sie putzt die Fenster, und singt.

Und sie singt immer, wenn sie arbeitet. Sie singt alles hinter und durch einander. Alte Kunstlieder aus osmanischer Zeit, mit falscher Aussprache und in ihrer eigenen Fassung vereinfachter Melodien... Städtische griechische und sephardisch-jüdische Volkslieder aus Kostantiniyye (seit 1930 Istanbul) des 19. Jahrhundert mit türkischen Texten... Letzte Schlager aus dem Radio.,, Und meistens singe ich mit.

"Guten Morgen," sagt sie. "Du hast geschlafen wie eine Katze. Draussen ist es sehr schön. Gehe in den Garten."

Ich gehe hinaus. Mich betäubt ein Duft. Ich gehe nach rechts. Von dort kommt der Duft, von einem kleinen Baum.

Ich weiss noch nicht, wie der heißt. Später werde ich erfahren, dass der ein Jasminbaum ist.

Ich bin unter dem Jasminbaum. So etwas schönes habe ich noch nie gerochen. Ich drehe mich im Kreis. Dann umarme ich den Baum und kreise um ihn.

Am Boden sind hunderte gefallene Blumen. Ich sammle sie in meiner kleinen Hand. Rieche sie. Reibe die Blumen an meine Wangen. Stecke sie in meinen Mund. Esse sie. Der Duft berauscht mich.

Trotz dem Schatten des Baumes verbrennt die heiße Juli Sonne die Erde. Rechts von der eckigen Säule ist richtiger Schatten. Ich laufe dorthin. Gehe zum Messing Wasserhahn. Trinke Wasser. Wasche mein Gesicht. Mache meinen Kopf nass. Schütte das Wasser von meinem Kopf. Meinen Händen.

Laufe wieder zum Jasminbaum. Dann gehe ich nach links. Maschendraht. Dahinter solange ich sehen kann Brachland. Zurück zum Jasminbaum. Rechts ist unser Haus.

Ich möchte spielen. Womit? Mit wem? Was?

Ich laufe im Kreis bis mir schwindlig wird. Dann setze ich mich unter dem Jasminbaum auf die Erde.
Meine Mutter kommt. Sie bringt eine Scheibe Brot. Bestrichen mit Margarine "Sana" (*) und selbstgemachter Orangenmarmelade. Und ein Glas Wasser.

Fahri Bey kommt heraus und geht zum Wasserhahn. Nimmt den Schlauch von dem Hacken. Dreht den Hahn auf. Nimmt die Spitze in seine Hand. Mit dem spritzenden Schlauch geht er nach links und dann vorwärts Richtung Rosengarten vor dem großen Haus.

Meine Mutter kommt heraus. Setzt sich zu mir. Auf ihrem Schoss ist eine Email Schüssel. Sie schält Kartoffeln. Dann schneidet sie sie in große Würfeln.

Sie geht wieder ins Haus. Ich halte mich an ihrem Rock an und gehe mit. Wir holen Zwiebeln und ein Holzbrett.

Wir gehen wieder unter den Jasminbaum. Sie schneidet Zwiebeln. Reibt ihre Augen und singt. Ich singe mit. "Von der Insel kommt unsere Geliebte. Mein Gott, schau diese Augen an. Ihr Seidenstrumpf fällt unter ihre Knie..."

Meine Mutter hält inne. Schaut mir in die Augen. Dann hält sie meinen Kopf und drückt ihn auf ihre Brüste. Sie streichelt meine Haare. Ich umarme sie soweit meine Arme reichen. Ich klammere mich an ihr Kleid. Ich bin glücklich. Ich will nicht mehr, dass irgend etwas geschieht, irgendjemand kommt, irgend etwas Lärm macht. Ich will, dass alles so bleibt wie jetzt.

Ich liebe meine Mutter. Sie ist meine beste und einzige Freundin. Mein Vater kuschelt mit mir nie. Aber ich liebe trotzdem auch meinen Vater. Meine Mutter kuschelt mit mir manchmal. Aber nur wann sie will. Wie die Lulu, meine verlorene Katze.

Plötzlich aber stosst mich meine Mutter ab:

"Ich muss weiter kochen!". Und ich liege auf der Erde und weiss nicht mehr, wie ich weiter leben soll.

Die Spatzen retten mich. Eine Schar von Spatzen kommen geflogen und setzen sich auf den Jasminbaum. Ich beobachte sie. Sie freuen sich. Sie sind nicht allein. Sie singen. Ich singe mit. Wir beobachten uns gegenseitig. Dann fliegen die Spatzen wieder weg. Ich bin wieder allein.

Ich gehe wieder ins Haus. Meine Mutter versucht den "Gasherd" anzuzünden. Ich stehe vorsichtig hinter ihr und beobachte sie von der Seite.

Der so genannte Gasherd ist eigentlich eine Benzinlampe aus Messing. Der hat drei Füsse. Darauf sitzt ein kleiner runder Topf. Dieser Topf hat oben am Rand eine Öfnung mit einer Kappe. Wenn man die Kappe nach links dreht, geht sie auf. Jetzt bringt meine Mutter einen kleinen Benzinkanister. Mit einem kleinen Trichter füllt sie den Topf. Macht ihn wieder zu. Es stinkt nach Benzin. Von dem Topf geht eine Messingstange heraus. Der ist so dick wie mein kleiner Finger und so lang wie wenn ich meine Finger auseinander spreize. Das ist die Pumpe. Jetzt bückt sich meine Mutter und pumpt. Ein und aus und ein und aus. Das Pumpen wird immer schwerer. Meine Mutter schwitzt aber pumpt weiter. Dann seufzt sie und setzt sich erschöpft auf den Boden.

Der Gasherd hat einen Kugelkopf in der Mitte. Auf diesem Kopf sind nicht zählbare kleine Löcher. Sie sind so groß wie der Kopf einer Ameise. Meine Mutter holt die Zündholzschachtel. Reibt ein Zündholz an der Seite. Es tut sich nichts. Ein zweites Stück. Es flammt und Schwefelgeruch brennt in meiner Nase. Sie hält die Flamme an die Kugel. Es macht "wuff" und die Kugel wird von einer blauen Flamme ummantelt. Die Füsse vom Gasherd gehen nach dem Benzintopf weiter hinauf. Jetzt werden die Füsse Arme und umarmen die Kugel. Meine Mutter setzt den Kochtopf hinauf.

Mit mir redet sie nicht. Sie denkt. Sie denkt immer wieder. Was denkt sie?

Ich gehe wieder hinaus.

Ich sitze wieder unter dem Jasminbaum.

Links vom großen Haus taucht plötzlich mein Vater auf. Er lächelt und kommt zu mir. Wie immer in der rechten Seitentasche seines Sackos eine gefaltete Zeitung und unter seiner Axel ein Laib Brot.

"Ist Nurten im Haus?".

"Ja."

Mein Vater geht ins Haus und ich laufe nach.

"Merhaba Nurten!".

"Merhaba!".

Das ist so etwas wie "Servus". Meine Mutter nimmt ihm das Brot ab und hilft ihm sein Sacko auszuziehen.

Dann holt mein Vater den "Sofra". Der Sofra besteht aus einem kleinen kreuzförmigen Holzgestell, so hoch wie ein Kindersessel und einer großen runden Holzplatte, so groß, dass vier Erwachsene rundherum sitzen können.

Dann bringt meine Mutter den "Sini". Das ist ein rundes flaches Tablett aus verzinktem Kupfer. Der Sini ist leichter zu putzen wie der Sofra, der aus ungehobeltem Fichtenholz besteht.

Dann setzt sich mein Vater an den Tisch im Türkensitz und sagt mir "Setz dich nieder!" Ich setze mich auf meine Knie und schrumpfe mein Gesicht. Im vorigen Haus haben wir einen Tisch und Sesseln gehabt. Sie gehörten aber dem Hausbesitzer.

Meine Füsse schlafen sofort ein. Mein Vater sagt "Streng dich an!". Meine Mutter holt den Brotlaib und ein großes Brotmesser. Dann holt sie den Kochtopf, drei Teller und Besteck. Dann setzt sie sich nieder.

Mein Vater schneidet das Brot. Das ist eine sehenswürdige Zeremonie. In exakt gleich breite Scheiben, langsam, mit präzisen Handbewegungen, in größter Konzentration... Dann sagt er "Afiyet olsun!". Das ist guten Appetit in osmanisch. Er bricht ein Stück Brot ab, steckt es in den Mund, und dann können auch wir mit dem Essen beginnen.

Nach dem Essen macht meine Mutter wieder den Gasherd an und kocht Wasser für das Geschirr waschen. Mein Vater holt seine Zeitung. Beginnt zu lesen.

Mein Vater kann reden. Aber er redet nie. Oder nicht, wenn er nicht unbedingt reden muss. Schreien tut er auch nicht. Weinen tut er auch nicht. Lachen tut er auch nicht. Aber er lächelt. Fast immer. Viele Jahre später durfte ich einen Film mit Buster Keaton sehen. Ich schrie sofort: "Das ist mein Vater!".

 

 

Vor einem Jahr, November 2017, schrieb ich diese Anekdote „Guten Morgen Jasminbaum“.

Hier beschrieb ich einen Alltagsgegenstand namens „Gasherd“. Seit mehr als 50 Jahren habe ich nie mehr so einen „Gasherd“ gesehen. Meine Beschreibung über das Jahr 1954 beruht rein auf meinem Gedächtnis.

Exakt nach einem Jahr nach der Veröffentlichung bekomme ich ein Bildnis vom Archiv meines hochgeschätzten Freundes Kevork Taskiran. Eine Werbeanzeige in einem Printmedium.

Der hier abgebildete „Gasherd“ ist ein griechisches Fabrikat und funktioniert ohne Pumpe mit einem Docht. Die heraus stehende Stange ist keine Pumpe, sondern ein Regler für die Höhe des Dochtes. Trotzdem schaut es meinem Gasherd sehr ähnlich.

Danke Kevork Taskiran.

 
Notiz des Historikers Dr. Memo Schachiner:

(*) Sana: Ab 1950'er Jahren erobern die USA-Produkte die Türkei.

Damals hatte die USA einen großen Sojaproduktion-Überschuss. Der Konzern Unilever produzierte gehärtetes Soja-Fett.

In den USA war die Marke der Margarine "Country Crock".

Seit 1953 wurde dieses Produkt importiert, in der "Republik der Türkei" verpackt und bekommt den türkische Namen "Sana" (=An Dich).

So verschwand die Butter von den Märkten in der Türkei.

Ich habe nur ein einziges Mal in meiner Jugend Butter gegessen, bei einem Besuch bei meinem "Dede". Er hatte auch einen "Kühlschrank".

 
 
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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016