Besuch bei Schemsi Bey

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
BESUCH BEI SCHEMSI BEY
 
Sigmundsherberg, 04. 12. 2017
 

 

Ich stehe von meinem Pferd auf und gehe. Rechts, das große Haus entlang. Am Ende des Hauses komme ich zu einigen Stufen. Die Treppe geht nach links hinauf. Rechts von den Stufen steht eine Mauer als Geländer. Darum habe ich diese Treppe von der Straße nicht gesehen.

Ich steige die Stufen hinauf. Da ist eine Haustür. Die Tür ist halb offen. Ich drücke die Tür hinein.

"Wer ist da?".

"Ich!".

Eine dicke Frau kommt. Sie hat eine dunkle Haut. Nicht so weiss wie meine Mutter.

"Aha! Du kommst uns besuchen? Wir sehen dich immer vom Fenster. Komm herein."

Ich gehe hinein.

Da gibts einen großen Tisch. Rundherum vier Sesseln. Bei den Sesseln sind die Holzteile krumm.

Die Beine vom Tisch sind auch nicht gerade. Aus den Holzteilen kommen überall eigenartige Blumen und Blätter hervor. Die Begriffe wie "geschnitzt" oder "gedrechselt" kenne ich noch nicht. Auf den Sitztplätzen der Sesseln ist ein rote Stoff mit goldenen Blumen gespannt. Auch auf den Rückenlehnen. So etwas habe ich noch nie gesehen.

Die Frau ist die Frau von Schemsi Bey. Schemsi Bey ist bei der Arbeit. Er ist ein Möbeltischler.

Da ist auch ein Sofa. Darauf liegt ein dickes Mädchen. Sie begrüßt mich. Sie ist älter als ich. Also eine "Abla" (=ältere Schwester). Sie schaut nicht so aus als ob mit mir spielen will. Sie liest eine Zeitschrift mit vielen Bildern.

Die Frau von Schemsi Bey hebt mich auf und setzt mich auf einen Sessel bei dem Tisch und geht für mich Tee kochen. Es gibt zum Tee auch Biskuits.

Am Boden liegt ein großer, dicker Teppich. Darauf liegt etwas, dass ich auch noch nie gesehen habe. Das ist kein Haustier. Vielleicht eine Maschine. Das ist eine runde, lange Schachtel. Vorne ist ein Rohr. Hinten ist ein Kabel.

"Was ist das?"

"Das? Das ist ein Strombesen!"

" Warum müsst ihr den Strom wegkehren?"

"Nicht den Strom. Sondern den Dreck."

"Also, ein Dreckbesen?"

"Es läuft aber nur mit Strom. Darum Strombesen."

Die Welt ist voller Dinge, die ich noch nie gesehen habe. Ich bin neugierig. Ich will alles kennenlernen. Mit jedem Ding lerne ich auch neue Wörter kennen. Mit jedem neuen Wort erfahre ich, dass die Erwachsenen noch dümmer sind als ich mir bisher gedacht habe. Trotzdem muss ich ihre Begriffe lernen und benützen, wenn ich mit ihnen kommunizieren will.

Die Frau von Schemsi Bey steht auf und steckt den Stecker am Kabelende in die Steckdose. Plötzlich beginnt ein großes Tier, welches ich auch noch nicht kenne, zu heulen. Ich bekomme Angst.

Die Abla steht auf und kommt zu mir.

"Du brauchst keine Angst zu haben. Das tut nichts."

"Das schreit aber schrecklich."

Sie hebt den Monster mit ihrer rechten Hand auf und nimmt das Rohr in ihre linke Hand. Jetzt hält sie die Rohrspitze an meinen rechten Schenkel. Das Tier schluckt mein Fleisch hinein. Ich habe Angst. Ich schreie. Sie nimmt das Rohr wieder weg. Mein Schenkel ist noch da. Nur ein bißchen gerötet. Ich reibe meinen Schenkel.

"Abla, kannst du ihm sagen, dass er weniger schreit?"

Sie steckt den Stecker aus der Steckdose heraus. Ich gehe runter. Lege ich mich neben das Tier hin. Ich rieche es. Ich schlecke sein Rohr. Die Frau von Schemsi Bey und ihre Tochter schauen zu und kichern. Das ist kein Tier. Das ist Material. Material lebt nicht. Material tut mir nichts, ausser dass ich es benütze. Es gibt verschiedene Materialien. Sie sind verschieden hart oder weich. Sie scmecken alle anders. Und wenn mann sie klopft, klingen sie alle anders. Ich klopfe die runde Schachtel von verschiedenen Seiten an. Die Frau und ihre Tochter lachen immer mehr. Dann schlecke ich es noch einmal. Dann stehe ich auf und sage "Ihr Strombesen ist kein Tier, sondern eine Pappe!"

Jetzt wälzen sich die Frauen am Boden vor lauter lachen. Ich bleibe ernst und bestimmend wie mein Vater.

"Können sie ihn bitte noch einmal anstecken?"

Die Frau schaut mich ratlos an, ich nicke mit meinem Kopf. Sie steckt ihn wieder an.

Ich gehe wieder zum Tisch. Gebe die Reste von Biskuits auf meine Handfläche und gehe wieder zur Rohröffnung vor der runden Schachtel. Ich bin vorsichtig. Ich will nicht, dass die Maschine meine Hand schluckt. Ich halte meine Hand mit Abstand davor. Die Brösel in meiner Hand beginnen sich zu bewegen. Dann bringe ich meine Hand noch ein bißchen näher. Auf einmal schluckt der Strombesen alles weg.

"Danke schön", sage ich. "Sie können ihn wieder ausstecken."

Jetzt schauen die Frauen mich erstaunt an.

In der Bauhütte in Suadiye, wo wir damals wohnten, haben wir einen kleinen Fleckerlteppich gehabt. Darauf ist die Singer Nähmaschine von meiner Mutter gestanden. Wenn sie da genäht hat, war der Fleckerlteppich mit den abgeschnittenen Fadenresten voll zugedeckt.. Ich bin am Boden gekrochen und habe sie weg gesammelt. Am Anfang hat es mir Spass gemacht. Aber nach einigen Stunden war das eine unerträgliche Tätigkeit. Wenn wir damals einen "Strombesen" gehabt hätten...

Ja. Meine Eltern versorgen mich. Ich tue dafür nichts, was sie brauchen können. Also, ich brauche sie, aber sie brauchen mich nicht. Das macht mir Angst. Jetzt habe ich aber ein Wissen, das sie brauchen werden: "Es gibt einen Strombesen". Das muss ich meiner Mutter unbedingt sagen.
Schemsi Bey kommt. Auch er ist dick. Kürzer wie mein Vater. Auch er ist dunkler und hat schwarze Locken. Und er hat einen Schnurbart.

"Was ist los hier?"

"Er hat uns besucht!".

"Schön, dass du uns besucht hast. Du kannst uns immer besuchen. Jetzt musst du aber gehen. Wir werden essen."

"Sind Sie Möbeltischler?".

"Ja.".

"Meine Mutter braucht dringend "Kariolas". Können sie Kariola machen?".

"Ja! Sag deiner Mutter, ich mache die besten Kariolas."

Ich verabschiede mich. Jetzt habe ich soviel Wissen gesammelt, dass meine Elttern mich nicht mehr so leicht hinaus schmeissen können.

Ich verabschiede mich.

"Wo warst du? Wir wollten gerade zur Polizei gehen!" sagt meine Mutter.

"Kennst du Strombesen?", frage ich.

"Ja. Was soll das? Das ist nichts für uns. Das ist für die reichen Leute. Und wo warst du?"

"Beim Schemsi Bey".

"Du darfst nicht mehr dorthin gehen", sagt mein Vater bestimmend.

Warum das so ist, weiss ich nicht, aber das ist so. Wenn mein Vater ein Verbot gibt, muss man sich daran halten. Sich dagegen zu widersetzen ist für mich nicht vorstellbar. Aber mit seinen Verboten verkleinert er meine kleine Welt immer mehr. Trotzdem frage ich:

"Warum?"

"Er ist ein Kinderschänder."

Was ist das schon wieder?

"Er tut kleinen Kindern weh!"

"Wieso" und "warum" gibt´s nicht mehr. Ich weiss, das mein Vater so ist.

Ein letzter Versuch:

"Mama, du brauchst dringend Kariolas oder? Schemsi Bey macht die besten Kariolas".

"Ich habe einen Freund in Istanbul." sagt mein Vater. Er heißt Antranik. Er ist ein Armenier. Auf Armenier ist Verlass. Ich bringe euch bald die besten Kariolas."

 
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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016