Meine Schmetterlinge

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
MEINE SCHMETTERLINGE
 
Sigmundsherberg, 21. 01. 2017
 
 
 

 

Mein Dede ist in seinen Keller gegangen. Die Fotos sind fertig. Mein Vater hat sie abgeholt. Ich klebe sie in mein neues Fotoalbum.

Mein Fotoalbum ist eine Schmetterlingssammlung. Meine Schmetterlinge können nicht mehr fliegen. Sie hören nichts mehr, sie riechen nicht mehr. Meine Schmetterlinge sehen nicht einmal mich, während ich sie auf weißen Blättern bestatte.

Mit jedem Foto bestatte ich auch ein Stück von meinem Herz. Danach schlage ich die Seite zu.

Sie bekommen keine Luft mehr. Sie sind jetzt endgültig tot. Sie werden nie mehr zurückkommen.

Ja, ich muss sie geliebt haben. Auch sie liebten mich. Sie waren meine ersten Lieben. Nur, wie auch alle weiteren meiner Lieben, war die Liebe für mich, zu der Zeit wo sie stattfand, nicht erlebbar.

Ja. Ich bin traurig. Ich habe Sehnsucht.

Aber was heißt hier "Sehnsucht"? Will ich sie sehen?

Ich bin ein Krüppel. Ich sitze im Rollstuhl und ich kann mein Haus nicht verlassen. Wenn ich sie sehen soll, sollten sie zu mir kommen.

Wie sollten sie mich hier, in einem gottverlassenen Dorf am Waldrand in Niederösterreich finden?

Und was wäre dann, wenn sie mich hier finden? Meine Mutter würde schreien, ihre Haare ausreißen, ihre Kleider zerreißen... Wie sollte ich sie beruhigen?

Mein Vater war ein ordentlicher Mann. Wenn er wüsste, dass ich sein Foto Jahrzehnte später veröffentlichen werde, würde er sein Hemd und seine Krawatte holen.

Mein Vater rettete mich abermals vor vernichtenden Katastrophen, die ich selbst verursacht hatte.
Trotzdem blieb er für mich immer ein Fremder. Erst knapp vor seinem Tot entpuppte er sich als ein immer versteckt gebliebener Freund und Genosse.

Bald danach flüchtete ich, nicht zuletzt mit seiner großen Hilfe, nach Österreich. Ich versprach ihm, dass ich bald zurückkommen und bis zur Revolution weiterkämpfen werde.

Die Revolution wurde zerschlagen. Ich blieb in Wien.

Meine Mutter sagte, dass er an seiner Sehnsucht nach mir gestorben sei.

Die neuen Paschas ließen mich nicht hinein und ihn nicht hinaus.

Er war damals fünfzig Jahre alt. Jetzt bin ich siebzig. Wie sollte das aussehen? Wahrscheinlich würde er bei der Tür stehen bleiben, sich nicht herein trauen, nichts sagen, auf seinem Gesicht keine Falte bewegen lassen, umfallen und sterben.

Ich schlage das Blatt noch einmal um und schaue noch einmal das Foto an.

Da ist ein junges Paar. Sie sind wirklich ein paar sehr unschuldige junge Menschen. Sie wollen einfach überleben und höchstens in diesem Leben "zufrieden" sein.

Ich habe Mitleid mit ihnen und mit ihrer Unschuld. Ich würde ihnen gerne helfen. Ich kann aber nicht.

Meine Mutter war völlig abhängig von meinem Vater. Ohne ihn würde sie jetzt vielleicht die Frau eines Arbeiters oder gar von einem Arbeitslosen sein. Oder eine Putzfrau?

Meine Mutter war stolz auf ihn, und bleibt ihm treu.

So wurde das Schicksal von meinem Vater bestimmend für die Schicksale der beiden.

Meine Mutter glaubte an Gott. Gott hatte jedem sein Schicksal auf seine Stirn geschrieben, bevor er geboren wurde. Diese Schrift war für die Menschen unsichtbar. Nur die Engel konnten sie sehen. So musste jeder sein unveränderbares Schicksal tragen.

Karl Marx glaubte, dass die Gesetzesmäßigkeit des historischen Materialismus das Schicksal der Menschheit bestimmen würde. Demnach sollten wir jetzt in einem kommunistischen Paradies auf der Erde leben.

Der größte Blutpascha aller Zeiten starb zehn Jahre vor meiner Geburt. Sein Reich aber lebt heute noch immer, wenn auch die Namen der "Präsidenten" sich immer wieder ändern.

Grundvoraussetzung dafür, dass man damals in der Türkei überhaupt überleben konnte, war "nicht auffallen".

Mein Vater mit seinem Pokergesicht und ewigem Schweigen hatte die besten Voraussetzungen für "nicht auffallen".

Mein Vater glaubte, dass jeder Mensch sein Schicksal selbst bestimmen kann.

Er wollte nicht allzu viel von seinem Schicksal: Ein sicheres Beamtengehalt, das mit der Zeit allmählich höher wird. Und ein Sohn als Maschinenbauingenieur, der ihn und seine Frau von der Armut erlösen und seine Nachkommen den Aufstieg zur nächsten sozialen Klasse ermöglichen sollte.

Er hatte sein Schicksal gut geplant. Er war auch bereit, um dies Schicksal zu erreichen alles zu tun.

Auch er war seiner Frau treu. Er stand jeden Tag in aller Früh auf und ging zu seiner Arbeit. Da könnte nichts mehr schief gehen.

Nur eines trotzte seinem Zukunftsplan: Dieses unschuldige Paar brachte ein Monster, mich, auf die Welt.

Ich habe alle ihre Träume zerstört.

Ohne das selbst zu beabsichtigen, ich fiel auf.

 

 
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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016