Mein Dede ist da!

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
MEIN DEDE IST DA!
 
Sigmundsherberg, 30.12. 2017
 
 
 

 

Es ist wieder Sonntag. Mein Vater ist wieder da. Nach dem Mittagessen besucht uns mein Dede mit seiner ganzen Familie.

"Dede" heißt türkisch "Opa". Ich habe aber keinen Opa. Mein Dede ist älter als mein Vater und darum nenne ich ihn Dede.

Mein Dede hat uns auch früher, in unseren früheren Wohnungen besucht. Wenn er uns besucht, geschieht etwas besonderes:

Zuerst sucht er etwas "hübsches". Dann verlangt er von uns, dass wir uns hinter den hübschen Gegenstand stellen. Dann stellt er gegenüber uns ein dreibeiniges Stativ auf. Darauf schraubt er sorgfältig einen großen Kasten.

Dann hält er einen Apparat, so groß wie eine Zigarettenschachtel, in unsere Richtung und berechnet. Das tut er mehmals. Jedesmal dreht er danach das kleine Rohr vor dem Kasten herum.

Das alles dauert sehr lang. Wir müssen die ganze Zeit da stehen und uns nicht bewegen. Das ist sehr langweilig.

Hinter seinem Kasten ist ein schwarzes Tuch. Er steckt seinen Kopf da hinein.

"Nicht bewegen!", schreit er.

Wir dürfen ab jetzt auch unsere Wimpern nicht mehr bewegen.

Er holt aus seiner Hosentasche einen Gummivogel heraus und hält ihn mit seiner linken Hand hoch.
"Lächeln!", schreit er.

Wir lächeln und achten darauf, dass unsere Lippen nicht mehr zucken.

Er drückt seinen Gummivogel zusammen. Der Vogel schreit "Piiiiik!".

Und es ist geschehen.

Nach ein paar Tagen holt mein Vater die neuen Fotos. Wir schauen sie an, sehen uns selbst, und freuen uns. Nur meine Mutter beklagt sich jedesmal: Ich und mein Vater könnten gefälligst ein bißchen mehr lächeln. Wenn sie sich nicht so beeilen müsste könnte sie ihre Haare besser frisieren, usw.

Mein Dede marschiert nach links, nach rechts, nach vorne, nach hinten... Bei uns gibt es nichts "hübsches". Unser Haus ist "nicht hübsch". Der Jasminbaum ist "zu klein". Zum schluß entscheidet er sich für die Blumen hinter dem großen Haus.

Hier sehen wir ganz vorne die Hortensien. Meine Mutter nennt sie "Ortandja". "Ortandja" heist türkisch "mittig". Aber hier hat das mit mittig nichts zu tun. Mein Dede kann französisch. Für ihn heißen die Blumen "Hortensia". Für meine Mutter ist Hortensia schwer auszusprechen. So heißen sie für sie "Ortandja".

Links steht meine Mutter. Neben ihr steht Nedjla Abla. Hinter ihnen stehen von links nach rechts Mein Vater, ich, die Schwester von meinem Vater und ihr Mann, mein Dede.

Mein Dede hat noch eine Tochter. Sie heißt Güler Abla. Sie ist hier aber nichr sichtbar. Sie muss den Fotoapparat bedienen.

Bei der Mittagssonne kann man nicht fotografieren. Die Sonne muss sich ein bißchen nach rechts bewegen. Bis dahin sitzen wir unter dem Jasminbaum.

Hier haben wir unsere vier griechischen Sesseln. In der Mitte sitzt mein Dede. Er ist der König. Links von ihm sitzt seine Frau, sie ist die Königin. Ich nenne sie "Hala", also Tante vaterseits. Neben Ihr sitzt Nedjla Abla. Sie ist die Prinzessin. Rechts von ihm sitzt mein Vater. Er ist der Vizekönig. Ich bin der Kronprinz. Ich sitze auf dem Sattel von meinem Pferd. Meine Mutter und Güler Abla sind die Bedienerinnen. Sie sitzen auf der Erde.

Wenn die Erwachsenen uns besuchen, muss ich sie begrüssen. Dass heißt, ich muss ihre Hände küssen.

Mein Dede streckt seine rechte Hand weit hinaus. Diesen Abstand muss man mit ihm immer halten. Wenn man ihm näher kommt, zieht er seinen Kopf hinein und kreuzt seine Arme auf seiner Brust. Wie eine Schildkröte, denke ich.

Ich halte seine Hand mit meiner kleinen Hand, küsse seine Finger. Er hat eine ganz weisse Haut. Seine Finger sind sehr lang. Seine Fingernägel sind gepflegt. Er trägt einen goldenen Ehering.

Meine Mutter sagt, dass Fahri Bey und Raschid Bey "so" sind wie mein Dede. Was meint sie damit? Schlägt mein Dede die kleinen Buben? Kann ich mir nicht vorstellen. Er ist ein sehr feiner Mann. Er schimpft nie und er trägt eine Brille. Fahri Bey und Raschid Bey sind "anders". "Sie brauchen keine Frau", sagt meine Mutter. Mein Dede hat aber eine Frau.

Ich küsse die Hand von meiner Hala. Sie hebt ihre Hand kaum hoch. Ich muss sie mit meiner kleinen Hand hochheben. Sie hat auch lange, aber dicke Finger. Auch ihre Fingernägel sind gepflegt. Dafür kommt eine Frau zu ihr nach Hause und pflegt ihre Hände und Füsse. Auch sie trägt einen Ehering.
Nedjla Abla ist eine "Abla". Bei ihr küsse ich nicht die Hand, sondern die Wangen. Bei der Güler Abla ist das genauso.

Meine Hala ist wie mein Vater und meine Großmutter: Sie lacht nie. "Wir sind aus edlem Stamm.", sagt meine Hala. "Wir benehmen uns nicht wie das gemeine Volk".

Meine Mutter lacht. Ich glaube, das gefällt meinem Vater. Er sagt ihr aber: "Wenn andere Leute dabei sind, musst du ein bißchen weniger lachen."

Auch mein Dede lacht nicht. Er ist aber anders. Er ist nicht aus "edlem Stamm". Er ist nur "fein".

Meine Mutter gehört zum gemeinen Volk. Wegen meinem Vater wird sie akzeptiert oder geduldet. Auch meine Mutter akzeptiert und respektiert sie. Wegen der gegebenen Familienverhältnisse. Aber sie lieben einander nicht.

Ich kann mit meiner Hala nicht viel anfangen. Mit ihr kann mann nicht kuscheln. Sie ist kalt.

Auch mit meinem Dede kann man nicht kuscheln. Ich habe ihn aber gern. Weil er fein ist. Was ist bei ihm so fein? Ich weiss es nicht.

Meine Mutter sagt, "Er ist ein Mason", also Freimaurer. Meine Mutter weiss nicht genau, was das bedeutet. Aber nicht was gutes. Hat etwas mit den Juden zu tun. Er ist aber kein Jude. Er ist Blond. Er ist albanische Abstammung. Was bedeutet "Albanisch?"

Nedjla Abla und Güler Abla lachen, wenn ihre Mutter nicht dabei ist. Ihr Vater mischt sich nie ein. Bei ihm können sie machen, was sie wollen, ob das "richtig" oder "falsch" ist.

Meine Hala hat keine Freundinnen. Sie will mit den "Gassenweiber" von Istanbul nichts zu tun haben.

Ihre einzige Freundin ist Nedjla Abla. Sie ist sehr stolz auf Nedjla Abla.

Nedjla Abla ist Chemieingenieurin. Nach meine Mutter leidet das arme Mädchen sehr darunter. Sie ist "sitzen geblieben". Erstens, niemand stellt eine Frau als "Chemieingenieur" an. Das ist ein Männerberuf. Zweitens, niemand heiratet eine Frau, die ein akademischen Titel hat. Sie ist verdorben.

Güler Abla ist für meine Hala wertlos. Sie hat einen Arbeiter geheiratet. Trotz massiven Warnungen ihrer Mutter. Und der Arbeiter hat sie verlassen. Güler Abla ist nur eine "Putzfrau" und wohnt in einem Keller.

Mein Dede steht niemandem nahe. Aber er ist allen gegenüber sehr freundlich und respektvoll. Er und mein Vater finden einander in Ordnung. Mein Vater hat großen Respekt vor ihm.

"Kaffee?", fragt mein Vater.

Mein Dede nickt und sagt: "Mit Zucker, bitte!".

Meine Mutter und Güler Abla stehen auf und laufen ins Haus. Güler Abla bringt zwei kleine Porzellantassen und setzt sie auf zwei kleine Porzellanteller.

Meine Mutter bringt ein "Djezwe". Das ist ein kleiner verzinkter Kupfertopf mit einem langen Griff. Drin ist frisch gekochter osmanischer Scwarzkaffee mit Zucker. Sie gießt den Kaffee in die Tassen.

Kaffee kauft mein Vater von einem großen Geschäft in Istanbul. Das heisst "Trockenkaffeemacher Mehmet Efendi und Söhne." Dieses Geschäft gibts heute noch immer und ist eines der wenigen übriggebliebenen Geschäften von der osmanischen Zeit.

Nach dem Abendessen trinkt mein Vater immer eine kleine Tasse Kaffee zu seiner Zeitung. Auch meine Mutter trinkt manchmal eine Tasse. Aber nicht immer. Kaffee ist sehr teuer.

Mein Dede spricht mit meinem Vater eher osmanisch als neutürkisch. Meine Mutter spricht neutürkisch mit istanbuler Akzent oder besser gesagt verwendet sie Wörter aus allerlei Sprachen.

Sie spricht sie falsch, angepasst an istanbuler Mundart aus. Mein Dede und mein Vater finden das neutürkisch lächerlich. Ich muss es aber bald in der Schule lernen. Es ist wichtig.

Ich weiss bereits, dass nicht alle Erwachsenen gleich wert sind. Mein Dede gehört zu den Erwachsenen, die die höchste Achtung bekommen. Er ist ein Oberstveterinärarzt. Er war im Krieg gegen die Griechen. Er erzählt immer wieder vom Krieg.

"Am Anfang musste ich die verletzten Pferde erschießen, damit sie nicht mehr leiden. Danach hieß es "Munition sparen!". Danach erschoß ich nur die schwerverletzten Soldaten. Danach hieß es wieder "Munition sparen!". Danach mußten wir unsere nicht verletzten Soldaten erschießen, die auf den Hügel der Leichen nicht hinauf klettern wollten und zurück liefen. Ja, den Hügel an der Front! Die Leichen und verletzten Soldaten wurden dorthin geschleppt und übereinander gelagert. Das war der Schutz vor dem "Feind".

Meine Großmutter haben wir in dem Haus in Samatia verlassen. Dort lebten viele Griechen und Armenier.

"Dede, warum musstest du gegen die Griechen kämpfen?".

"Weil der Gott es so wollte.", sagt er.

"Glaubst du an Gott?", frage ich und fürchte mich vor meiner Mutter: Sie sitzt aber am Boden, schweigt ehrfürchtig, schaut vor sich hin und hört zu.

"Natürlich nicht.!", sagt mein Dede.

"Auch die Paschas glaubten nicht an den Gott. Aber sie sagten, Gott sagt, die Griechen sind heidnisch. Ihr sollt sie töten. Dann kommt ihr in den Himmel. Sonst verbrennt ihr im Fegefeuer.

Auch Griechen hatten Paschas. Auch ihre Paschas sagten dasselbe: Die Muslime sind heidnisch. Ihr müsst die Muslime töten. Sonst..."

Irgendwo weit draussen, gibt es einen hohen Hügel. Der besteht aus übereinander gelegten Leichen.

Mein Dede hat die Griechen vertrieben. Dort gibt es keine Griechen mehr. Dafür steht jetzt auf dem Hügel ein sehr großes Haus. Dieses Haus heißt "Republik". Da drinnen leben die Paschas. Sie sind wie die Straßenhunde. Ihre Zähne und ihre Krallen sind blutig. Nur, sie sind größer als die Straßenhunde. Sie sind sogar größer als der Gott. Sie entscheiden über unser Leben und Tot. Aber sie geben meinem Vater jeden Tag unser tägliches Brot.

Mein Vater sagt:

"Schwager, du könntest jetzt ein Pascha sein. Vielleicht würdest du jetzt Präsident der Republik."

"Dazu müsste ich meine nächsten Freunde umbringen.", sagt mein Dede. "Oder sie wären schneller. Ich habe mit meiner Vergangenheit Schluß gemacht. Ich will mit diesem Schmutz nichts mehr zu tun haben. Ich bekomme eine gute Pension und fofografiere."

Ja! Mit meinem Dede kann man nicht kuscheln. Aber ich mag ihn trotzdem. Nur, ich weiss nicht warum.

 

 
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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016