Meine Leben ist ein Roman

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
MEIN LEBEN IST EIN ROMAN
 
Sigmundsherberg, 24. 05. 2018
 
   
 

Heute vor einem Jahr ist meine Mutter in der Türkei gestorben.

Sie litt dort vor allem an ihre ewigen Einsamkeit. Seit vielen Jahren bat sie täglich mehrmals ihren Gott, ihr Leid zu beenden. Aber ihr Gott blieb wie immer taub. So erreichte sie ein biblisches Alter und musste auch den elendigen Tod ihres jüngsten Sohns überleben.

In einem Monat werde ich selbst siebzig. Ich sitze nach wie vor im meinem Rollstuhl. So drehe ich mit meinen beiden Händen die Räder meines Rollstuhls nach vorne und trete auf der Bühne meiner Erinnerungen auf.

Ich verkneife meine Augen. Hier badet alles in grellem Sonnenlicht. Ich sollte eine Sonnenbrille mitnehmen. Auch als Kind musste ich bei dem Sonnenlicht eine dunkle Brille tragen, weil meine Augen sofort erröteten.

Hier leuchten die buntesten Farben. Jeder Gegenstand ist licht ertrunken. Nur ich bin grau. Mein Rollstuhl ist grau. Meine Haare sind grau. Mein Bart ist grau. Wenn ich einen Schatten werfen könnte, könnte ich in der grauen Masse meines Schattens verloren gehen.

Ich werfe aber keinen Schatten.

Obwohl ich seit einiger Zeit kaum mehr einen Geruchssinn habe, hier duftet alles unerträglich intensiv.

Ich höre nicht mehr gut. Aber auch die Klänge hier leuchten wie die Brillianten unter dem Sonnenlicht.

Ich drehe die Räder nach vorne und versuche nichts zu berühren. Hier spielt noch immer derselbe Einakter. Auch das Bühnenbild bleibt immer gleich: Hinten ist die hintere Mauer des großen Hauses. Davor ist der große Busch der Hortensien.

Plötzlich bewegt sich die Luft mit einer kleinen Explosion und eine Schar von Spatzen steigt von den Hortensien auf und fliegt zu mir. Bevor ich mich schützen kann, fliegen die Vögel durch mich durch und bald bewegt sich wieder kein Blatt mehr.

Meine Mutter hockt vor unserer Bauhütte. Ich fahre zu ihr.

Meine Mutter hat auf dem Gasherd Wasser gekocht. Das Wasser hat sie in enen Bottich aus Zink gegossen. Danach gab sie arabische Seife, so nannte sie die Schmierseife, hinein. Jetzt wäscht sie Wäsche drinnen. Sie reibt mit ihren Händen die Wäschestücke aneinander, klopft sie, würgt sie. Schaumblasen spritzen herum und werden von der gelben Lehmerde aufgesaugt. Sie schwitzt. Sie keucht. Ich schaue zu. Die Haut meine Hände ist geschmeidig. Die Haut ihre Hände ist rau.

Jetzt würgt sie die Wäschestücke, sehr fest, mit all ihrer Kraft.

Sie bringt einen "Gaz-Tenekesi" (= Petroleum-Kanister) ( * ) vom Haus und gibt die gewürgten Wäschestücke hinein.

Jetzt geht sie mit dem Bottich ins Haus und gießt das Wasser ins Klo. Dann kommt sie wieder mit dem leeren Bottich und geht zum Messinghahn. Sie spült den Bottich aus und füllt ihn mit frischem Wasser. Sie bringt den vollen Bottich mit gespreiztem Beinen zurück. Sie stellt ihn auf die Erde. Sie reibt ihr Kreuz.

Dann taucht sie die Wäscheknäulen einzeln wieder in den Bottich, macht sie locker und würgt sie neuerlich. Sie wiederholt das einige mal. Dann gibt sie die fertigen Stücke in den Gaz-Tenekesi.

Ich schaue genau zu und versuche gut zu lernen.

Ich holte meine erste Waschmaschine von einem Müllkontainer in Wien. Eine museumsreife Miele.

Ich war bereits dreissig. Bis dahin hatte ich meine Wäsche so gewaschen, wie ich es von meiner Mutter damals gelernt habe.

Endlich ist die ganze Wäsche fertig. Und meine Mutter auch.

Mein Vater hat im Garten ein Metallrohr tief in die Erde eingeschlagen. Er hat zwischen dem Maschendraht am Gartenzaun und dieser Stange eine Leine gespannt.

Jetzt steht der Gaz-Tenekesi vor der Leine und wir stehen daneben. Neben dem Kanister sind in einem Emailkochtopf auch die hölzernen Wäscheklammern.

Meine Mutter streckt sich hoch. Ich gebe ihr erst ein Stück Wäsche und dann zwei Wäscheklammern.

Es weht eine Prise "Meltem", der Wind des Meeres, und ich atme den Duft der arabischen Seife.

Wir lassen die Wäche an Meltem und ich gehe zum Jasminbaum, meine Mutter geht ins Haus.

Jetzt kommt meine Mutter mit einer Schüssel und einem Topf zurück. Sie setzt sich auf einen griechischen Sessel, spreizt ihre Beine auseinander und gibt die Schüssel zwischen ihren Knien auf ihr Kleid. In der Schüssel sind grüne Fisolen. Meine Mutter nennt sie "Ajsche Kadin" (=Frau Ajsche).

Sie nimmt die Frau Ajsches einzeln in ihre Hand, bricht ihren Kopf ab. An dem Kopf hängt ein Faden und läuft durch den Bauch der ganzen Fisole entlang. Sie nennt den Faden "Fischgräte". Sie versucht den Kopf so weg zu ziehen, dass der ganze Faden ohne abzubrechen auf ein mal weg genommen wird. Das entfernte Stück wirft sie in den Topf.

Auch ich nehme eine Fisole und mache es ihr nach.

"Nicht so!" sagt meine Mutter. "Wenn der Faden abreisst, ist es schwer den Rest zu entfernen. Die Fischgräte ist hart und ungenießbar. Du mußt die ganze auf einmal weg ziehen."

Bereits damals konnte ich mich zu Tode konzentrieren. Ich bemühe mich und bereits beim dritten Mal gelingt es mir.

Wenn ich einmal erwachsen bin, will ich unbedingt einen Beruf ausüben wie die Männer. Aber will ich auch so eine perfekte Hausfrau sein wie meine Mutter.

Plötzlich bleibt sie still, entfernt ihre Hände von ihrem Körper und schaut auf einen Punkt in der Luft.
Auch ich bleibe still. Nach einer Weile sagt sie: "Mein Leben ist ein Roman". Und kümmert sich wieder um die Fisolen.

"Was ist ein Roman, Mutter?"
"Ein Roman ist... Ein Heft... So wie eine Zeitung. Aber kleiner... Und dicker. Ein neuer Roman kommt alle zwei Wochen. Dann kann mann ihn beim Gazeteci (=Kiosk) kaufen und lesen."

"Kannst du lesen Mutter?"

"Ja. Ich kann lesen. Ich bin ein Jahr in die Schule gegangen. Freiwillig und selbstständig. Nicht regelmäßig, aber doch. Ich war zu klein für die Schule. Aber sehr gescheit. Auch sehr süß. So hat mir der Lehrer erlaubt, in die Schule zu kommen und mit den älteren SchülerInnen zu lernen. Er hat für mich sogar ein Schreibheft gekauft. Die Schule war im Hisar(=Festung). Vom Haus bis zur Schule brauchte ich eine halbe Stunde zu Fuß.

Meine Mutter war meistens mit der Hausarbeit und ihren Männern so beschäftigt, dass sie gar nicht merkte, dass ich weg war. Sie hatte sowieso sehr viele Kinder. Aber einige Male hat sie bemerkt, dass ich weg war. Wie ich von der Schule zurück kamm, schlug sie mich blau und grün."

"Erzähl mir von deiner Mutter. Bitte!"

"Sie war sehr schweigsam. Und immer nachdenklich. Und wenn sie eines ihrer Kinder erwischte, prügelte sie es ordentlich. Über ihre Kindheit weiss ich nur, dass sie öfters in den Naturpark ging. Dort war ein Papagei. Sie löste den Knopf auf der Schnur ihrer Unterhose und pinkelte. Der Papagei sah das und schrie "Sidika hat wieder ihren Knopf aufgemacht"".

"Sidika?".

" Die Leute nannten sie Sidika. Arabisch... Die Treue."

"War sie arabisch?"

"Aber nein. Sie war blond. Sie hat gold leuchtende Haare gehabt bis zu ihren Hüften. Und sie war groß und sehr schlank. Ihr Gesicht war lang, hübsch, aber sehr streng. Und große grüne Augen".

"Wie war dein Vater?"

"Pass auf was du tust. Die Fischgräten gehören in den Topf, nicht die Fisolen... Als mein Vater gestorben ist, war ich vier Jahre alt. Ich habe ihn kaum gekannt. Die Leute nannten ihn Tewfiq mit Karakasch (=Schwarze Augenbrauen). Er kam von Osten. Von der Provinz Erzincan. Tewfiq Tschamlibel hieß er mit den Nachnamen...

Er hat mich nie geschlagen. Aber er hatte auch keine Zeit für mich. Er hatte Motorboote, Fischkutter, man nannte sie "Taka". Sie machten immer so "ta-ka-ta-ka-ta-ka". Links von der Prominade war das Meer. Da fuhren die Kapitäne hinaus und kamen am Abend wieder zurück. Mein Vater war der "Reis"(=Admiral). Am Strand saßen hunderte junge Griechinnen hinter einander und flickten die Fischernetze. Mein Vater machte sie hintereinander schwanger.

In der Nacht waren die Frauen weg. Den ganzen Strand entlang standen Tische und Stühle. Da kamen die honorigen Männer von der Umgebung und wurden bewirtet. Fisch, Fleisch, Früchte..

Mein Vater schickte Hummer nach Hause. Meine Mutter machte im Garten Feuer, stellte einen großen Gaz-Tenekesi darauf, füllte ihn mit Wasser und gab die Hummer hinein. Die armen Viecher krabbelten stunden lang in dem Kanister herum, stiegen über einander, bis sie tot waren und taten mir sehr leid...

Am Strand wurde vor allem Raki angeboten. Hunderte von Flaschen. Alles bezahlte mein Vater. Er trank sehr viel Raki. Wie ich vier geworden bin starb er an einem Magengeschwür.

Ja!.. Dann waren wir plötzlich sehr arm. Meine Mutter grub Löcher im Garten aus und grub die Kochtöpfe und das Geschir hinein. Dann kamen die Exekutionsbeamten, fanden alles, holten sie heraus und brachten sie weg. Meine Mutter wusste nicht mehr, was wir essen sollten.

Dann kamen Pamuk Anne(=Watte Mama) und Bey Baba(Herr Vater). Sie suchten ein Waisenkind für ihren Haushalt. Meine Muter gab mich ihnen. So wurde mein Leben gerettet. Was mit meinen anderen Geschwistern passierte, wusste ich lange nicht.

Ich habe meine Mutter nie wieder gesehen. Nach einem Jahr starb sie. Sie haben mir gesagt, dass meine Mutter tot ist. Ich war damals fünf.

Pamuk Anne wohnte in Schischli. Dieser Ort wurde damals neu gebaut für die neuen Reichen. Hier wohnten die Offizere, Anwälte und Ärzte. Bey Baba war auch Militär Arzt. Sie hatten auch eine Tochter: Handan Abla. Sie war vier Jahre älter als ich.

Dann war es aus mit der Schule. Sie brauchten mich für die Küche. Ich habe Stunden lang Geschirr gewaschen. Handan Abla schickten sie in die Schule.

Wozu Schule? Ich musste eines Tages heiraten. Dazu war die Schule nicht vorteilhaft.

Ausserdem habe ich alles dort gelernt: Das es einen Gott gibt, der alles sieht, dass er jedem sein Schicksal auf die Stirn schreibt, bevor er auf die Welt kommt und dass ich in den Himmel komme, wenn ich alles so tue wie Pamuk Anne es von mir will.

Ausserdem kochen, Wäsche waschen, schneidern, alles, was ein Mädchen für die Ehe braucht. Ich kann Tisch decken für zwölf Personen, nach Art des Napoleons. Ich kann auch französisch kochen.

Auch mein Name ist französisch: Nurten".

Meine Mutter hatte einen arabischen und einen persischen Vornamen: Behiyye(=Die Schöne, arabisch) Zülf-i Jar(=Haar des Geliebten, persisch). Weil sie eine sehr helle Haut hatte, nannte Pamuk Anne sie "Nur(=Licht, arabisch)"+"Teint(=Hautfarbe, französisch)"="Nurten". So enstand damals auch das ganze "Neutürkisch".

Unsere Schatten werden länger. Meine Mutter kann sich keine Pause leisten. Sie bringt die Ajsche Kadins ins Haus und kommt mit ein paar Zwiebeln, einem Messer und Schneidebrett zurück. Sie schält die Zwiebeln aus, schneidet sie. Ihre Augen sind voller Tränen. Sie reibt ihre Augen.

"Erzählt weiter, Mutter!"

"Aha, willst du weiter hören? Gut. So bin ich aufgewachsen. Niemals Hunger gehabt. Es war Zentralheizung im Haus. Und sie haben mich nie geschlagen.

Handan Abla ging an die Universität. Damals brachte sie immer wieder Freunde ins Haus und gab eine Party. Das war nötig zum heiraten. Ich durfte nicht dabei sein. Aber ich hörte das Grammophon immer mit durch die Tür. Und sie lachten immer viel. Sie tanzten. Tango, Foxtrot...

Ich durfte danach Geschirr waschen und putzen, wenn die besoffenen Jungen kotzten. Aber Handan Abla brachte mir auch persönlich tanzen bei.

Ja. Wir waren im heiratsmäßigen Alter. Handan Abla nahm mich auch ein paar mal mit ins Kino. Damals war Tyrone Power sehr berühmt. So einen Mann wollte ich heiraten. Er musste ein Offizier sein mit Uniform und glänzenden Knöpfen. Handan Abla fand bald einen Arzt. Sie war aber älter als ich. Jetzt war ich an der Reihe.

Damals waren manche alte Frauen in Istanbul als Kuppler tätig. Sie fanden die Bräutigam Kandidaten und schickten sie in die Häuser der Jungfrauen. Wenn eine Heirat zu Stande kam, wurden sie dafür bezahlt.

Bald kamen fremde Männer mich besuchen. Am Anfang schämte ich mich sehr. Aber bald habe ich mich daran gewöhnt. Die Männer kamen immer mit ihrer Mutter. Das war die Tradition. Für mich war die Pamuk Anne immer dabei. Sie zählte meine Vorzüge auf: Kochen, schneidern, bügeln...

Es kamen einige Männer. Fast jede Woche einer. Ich machte mich fesch, zog mein bestes Kleid an, Stöckelschuhe, Seidenstrümpfe, Lippenstift. Ich kochte Tee und servierte Biskuits.

Und siehe da: Die Männer waren schäbig. Ihre Mütter noch schäbiger. Ich schaute sie von oben herab an. Die Männer waren Arbeiter. Ich, eine Jungfrau aus einem guten Haus, würde niemals einen Arbeiter heiraten.

Dann kam dein Vater. Am Abend sagte Pamuk Anne "Morgen kommt jemand, dessen Vater aus der Provinzstadt abstammt, woher dein Vater stammt. Also aus der Osttürkei.

Ich wusste nicht, wo die Osttürkei ist, aber dein Vater war fesch. Er kam... fesch. Ohne Bart. Ohne Mutter. Allein. Das war ungewöhnlich. Schwarzer Anzug, weisser Kragen, Kravatte. Er hatte lange Hände, lange zarte Finger und gepflegte Fingernägel. Leider war er kein Offizier. Aber etwas ähnliches: Er war Zollbeamter. Meine Entscheidung war gefallen."

"Danke Mutter. Jetzt weiss ich alles. Aber was ist mit dem Roman?"

"Du hast den Roman nicht vergessen? Mein Leben ist ein Roman. Ich müsste es schreiben. Das ist aber mühsam. Ich kenne mich damit nicht aus, wann grosse und wann kleine Buchstaben kommen. Auch mit den Punkten kenne ich mich nicht aus. Ausserdem habe ich keine Zeit dafür."

"Mutter, ich bin bald in der Schule. Ich werde alles lernen. Dann werde ich deinen Roman schreiben."

Versprichst du es mir?"

"Ja."

"Wirklich?"

"Ja."

"Dann wirst du ein berühmter Mann."

"Ich weiss aber noch immer nicht, wovon ein Roman handelt.

Ich habe nur einen gelesen. Und den nur bis zur Hälfte. Lesen war sehr mühsam aber trotzdem spannend. Eines Tages kam Handan Abla, brachte mir einen Roman und sagte: `Ich habe das gelesen. Sehr spannend´. Auch ich habe versucht, ihn zu lesen. Am Anfang war das lesen sehr schwer. Aber es wurde mit jeder Zeile leichter. Ich war sehr aufgeregt. Nach einigen Seiten bin ich aber eingeschlafen. Ich war zu müde von der Hausarbeit.

Am nächsten Tag in der Früh kam Pamuk Anne in mein Zimmer. Ich war noch im Bett. Ich habe mich sofort aufgerichtet. Der Roman lag auf meinem Polster. `Was ist das?` sagte sie. ´Ein Roman`. Sie nahm den Roman weg und sagte `So was darfst du nie mehr lesen! Romane verderben den Charakter einer Jungfrau´.

´Mir hat das Handan Abla gegeben. Sie hat es bereits gelesen.´

`Sie muss lesen. Sie muss studieren. Sie ist keine Jungfrau mehr. Aber wenn du sowas liest, kriegst du keinen Mann.´

Ich habe nie wieder einen Roman gelesen. Aber Handan Abla hat mir immer wieder erzählt, was sie gelesen hat. Es gibt gute Romane. Da fand das arme Mädchen einen reichen Bräutigam. Er ist ein Armee Offizier oder ein Arzt. So wird sie von der Armut gerettet und lebt glücklich.

Es gibt aber auch schlechte Romane. Das Mädchen heiratet nur einen Arbeiter. Dann lebt sie immer arm.

Es gibt aber auch sehr schlechte Romane. Da fand das Mädchen überhaupt keinen Mann. Dann wird sie Bedienerin oder Hure."

"Mutter, ist mein Vater reich?".

"Was hast du gesagt?".

"Ist mein Vater reich?"

Meine Mutter stand auf. Hob ihre Arme hoch. Wie die Hähne im Garten von unserem Haus in Suadiye, bevor sie die Hühner attackierten. Die Hühner flogen davon. Der Hahn aber erwischte sie immer und stieg auf sie.

"Weisst du das selber nicht?"

"Nein, Mutter."

Ich fürchte mich. Ihre Augen schauen auf einmal wie die glühenden Kohle Stücke im Winter im Ofen aus. Sie schaut mich von oben an und ich werde immer kleiner.

"Ich putze jeden Tag seine Schuhe. In ihren Sohlen sind Löcher. Die Ellbögen von seinem Sacko sind völlig zerfranst. Ich habe schwarzen Stoff darauf genäht. Ich habe nur ein einziges Kleid. Ich könnte mehrere schneidern, aber erst muss er Stoff kaufen. Dein Vater ist arm, er ist bitter arm. Ich geniere mich darum zu Tode."

Sie fangt an, ihre Haare Büschel weise auszureissen und schrie:

"Oh mein Gott! Dieses Kind wird mich verrückt machen!"

Dann fangt sie an ihr einziges Kleid von der Schulter ab weg zu reissen.

"Siehst du, was du gemacht hast? Mein einziges Kleid."

Sie weint und zittert. Auch ich zittere an meinem ganzen Körper. Sie zerreist ihr Oberkleid mit zwei Händen und aller Kraft auseinander. Kleine Fetzen hängen von ihrem Gürtel hinunter. Jetzt bleibt sie nur mit dem Busenhalter. Sie legt sich auf die Erde und weint.

Ich will zu ihr gehen, sie umarmen, mit ihr gemeinsan weinen, aber ich bleibe wie erfroren stehen.

Nach einer Weile steht sie wieder auf und geht ins Haus, ohne mich anzuschauen. Auch ich folge ihr. Aber bleibe ein paar Schritte hinter ihr. Sie zieht sich ganz aus bis auf ihre Unterhose. Holt ihre Singer-Nähemaschine, einen Stoffsack mit Stoffresten und eine Schere. Setzt sich vor die Maschine. Ich starre stehend und schaue ihr zu.

Mein Vater wird bald kommen.

 

 
(*) Gaz-Tenekesi:= Vier kantige 18 Liter-Petroleum-Kanister vom Britisch Petrol aus verzinktem Blech. Die obere Decke wurde mit einem Konservenöffner weggeschnitten. Ganz oben wurde von einer Wand zu der anderen eine Rundholzstange als Träger befestigt. Mindestens ein Stück davon gehörte zu meiner Kindheit zu dem Pflichtinventar aller bescheidenen Haushalte.
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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016