Mein Onkel Saim kommt

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
MEIN ONKEL SAIM KOMMT
 
Sigmundsherberg, 03. 06. 2018
 

 

Bleibt in meiner kleinen Welt alles und immer gleich? Das dachte ich mir. Das stimmt aber nicht.

Die Schatten werden immer länger. Was bedeutet das?

Und meine wunderschönen platinblonden Haare werden immer dunkler. Werde ich weniger schön?

Und der Bauch von meiner Mutter wird immer größer, obwohl sie nicht mehr ißt als früher. Wenn es so weiter geht, kann sie bald nach vorne fallen und sich verletzen.

Ich sage aber nichts. Ich frage nichts mehr und warte, dass ich irgendwann einmal in die große Welt entlassen werde. Und ich habe eine riesen Angst davor.

Vor einer Woche kam der Briefträger. Er kam zum ersten Mal zu uns. Er hat eine große, alte, zerfranzte Ledertasche auf seiner linken Schulter hängen. Und er hat einen Schnurbart wie der Besen meiner Mutter. Also lebt auch ein Briefträger in der großen Welt.

Er brachte uns einen Brief von meinem Onkel Saim. Er wird uns heute besuchen.

Selbstverständlich kenne ich meinen Onkel Saim. Und seit langem. Ich kann mich an ihn bereits in Samatia erinnern. Nach meiner Geburt brachte man mich in das Haus von meiner Großmutter in Samatia. Samatia war ein uralter byzanthinischer Ort. Später wanderten hier auch viele Armenier ein. Da habe ich gelebt, bis ich drei Jahre alt war.

Unser Vorgarten war mit einem Wellblech umzäunt. Das Wellblech war so hoch, das ich niemals hinaus schauen konnte. Mein Onkel Saim war es, der mich zum ersten Mal auf seine Schultern setzte und mir ermöglichte zu sehen, was ausserhalb des Wellblechs noch existierte. Die Welt schien mir so groß, dass es mir schwindlig wurde.

Ein sehr steiler Weg vor unserem Haus, stark von rechts nach nach links sich neigend, lief unendlich weiter und war breiter als unser Vorhof. Diese Straße war zur Gänze mit Pflastersteinen bedeckt. Die Steine waren durch die Belastung der Jahrhunderte ziemlich gelockert, aber waren noch begehbar.

Und hinter der Straße waren zweistöckige Holzhäuser wie unseres. Viele, sehr viele Häuser. Natürlich wusste ich damals nicht, dass sie sehr alte Häuser im byzanthinischen Stil waren. Die Tür des Hauses uns gegenüber war offen. Da kam eine alte Frau mit einem Eimer heraus und schüttete das Abwaschwasser an den Straßenrand. Danach sah sie uns und winkte mit ihrer Hand.

"Schau! Die armenische Großmutter winkt dir zu. Begrüße sie!", sagte Onkel Saim. Ich hielt seinen Hals mit meiner linken Hand ganz fest und winkte mit meiner rechten.

"Diese Oma hat einen Bart. Meine Oma hat keinen."

"Deine Oma ist noch nicht so alt.", sagte mein Onkel Saim.

Danach kam ein Bub von der rechten Seite gelaufen und lief weiter. Ein rundes mettallenes Rad rollte vor ihm in großer Geschwindigkeit die Straße hinunter und klapperte ziemlich laut auf den Pflastersteinen. Er versuchte mit einem dünnen Ast, das Rad gerade zu führen und lief keuchend nach, um es nicht zu verlieren.

"Was ist das?"

"Das ist die Felge von einem Fahrrad."

"Was ist ein Fahrrad?"

"Das ist etwas sehr teures. Hier haben die Leute nicht genug Geld, so etwas zu kaufen".

"????"

Später, auch in Suadiye, wo ich 5 Jahre alt war, kam er auch ein paar mal, uns zu besuchen. Jedesmal brachte er eine Flasche Staatsmonopolbier für mein Vater und ein sehr kleines Päckchen für mich. So lernte ich die Schokolade kennen. Wenn man das rote Papier aufriss und das glänzende Silberpapier weg nahm, lag darunter eine dünne, braune Masse auf einem grauen Karton. Und diese Masse schmeckte mir unvorstellbar gut. Am liebsten würde ich jeden Tag so etwas essen, sogar mehrmals am Tag. Aber so etwas brachte nur Onkel Saim zu mir und er war nicht jeden Tag zu sehen.

Es ist alles so lang her. Ich habe fast vergessen, wie er ausgesehen hat. Jetzt kommt er wieder zu uns. Ich bin ganz schön aufgeregt.

Meine Mutter sagt: "Er raucht Zigaretten. Das ist schlecht. Sein Mund stinkt. Du musst ihm sagen, dein Mund stinkt, ich mag dich nicht mehr. Wenn er trotzdem weiter raucht, nimm seine Zigarette von seinem Mund weg und mach sie kaputt."

Eine lästige Aufgabe. Aber wenn das gut ist für meinen Onkel, werde ich es ausführen.

Zwischen der Betonsäule links hinter dem großen Haus und dem prächtigen Rosengarten taucht plötzlich mein Onkel Saim auf.

Er lacht, hüpft, singt, tanzt und so kommt er auf uns zu. An seiner linken Schulter hängt eine volle Netzttasche.

Er umarmt und küsst meine Mutter auf ihre Wangen, dann hebt er mich hoch und küsst auch meine Wangen. Dann setzt er sich auf einen der griechischen Sesseln.

Auf seinen Wunsch geht meine Mutter ins Haus, um einen osmanischen Kaffee mit Zucker zu kochen. Sie kommt mit dem kleinen kupfernen Kaffeetopf mit langem Griff und einer kleinen Porzellantasse mit Unterteller.

Er nimmt einen Schluck von dem Kaffee, und sagt: "Sehr gut hast du das gemacht!"

Und nimmt eine flache weisse Kartonschachtel aus seiner Hemdtasche, holt eine flache Zigarette heraus und steck sie in seinen Mund.

Ich setze mich sofort auf seine Knie, sage: "Dein Mund stinkt. Ich mag dich nicht mehr." Dann teile ich die Zigarette in zwei und werfe das zum Boden.

Er lacht sehr laut und sagt: "Das klingt aber nach deiner Mutter."

Meine Mutter geht ins Haus und holt einen für manche Gäste reservierten Aschenbecher.

 

 

Er holt noch eine Zigarette heraus und zündet sie mit seinem Benzinfeuerzeug an. Er macht all das so, wie er tanzt. Ich bleibe auf seinem Knie sitzen. Seine Zigarettenmarke heißt "Yenice". Er spitzt seine Lippen und läßt Rauchringe hinaus fliegen. Die Ringe steigen in der Luft hinauf, werden breiter und irgendwann lösen sie sich auf. Das gefällt mir. Er merkt das und schickt weitere Ringe hinauf. Wir beide lachen, meine Mutter schüttet ihren Kopf.

Ich rieche seinen Mund. Es ist ein mir unbekannter, grober Duft, aber es stinkt überhaupt nicht.

Meine Mutter bringt mir die Schokolade. "Magst du auch?"

"Nein. Das ist Kinderschokolade. Das gehört dir allein."

Ich bin nicht mehr klein. Ich will nicht die ganze Schockolade auf einmal essen. Ich werde sie teilen und jeden Tag ein bißchen davon essen. Ich laufe ins Haus. Verstecke die Schokolade unter meinem Polster und komme zurück.

"Kannst du dich erinnern, wie wir den zweiten Stock in Samatia geputzt haben?"

"Wie kann ich das vergessen? Damals war ich hoch schwanger."

"Ich habe im Hof vom Brunnen Wasser gepumpt mit der schweren, großen gußeisernen Pumpe. Dann das Wasser in den Eimer, und dann laufend über die knirschende Holztreppe hinauf. Und das ganze hunderte Mal."

"Und ich habe die Holzbretter am Boden geschrubbt wie eine Wahnsinnige."

Von allen fünfunddreissig Geschwistern meiner Mutter haben nur zwei Tanten und mein Onkel Saim die gleiche Mutter und den gleichen Vater wie sie. Die Tanten haben die Familiennamen ihrer Männer übernommen. Nur Onkel Saim heißt mit Nachnamen wie sein Vater "Tschamlibel".

"Und wo warst du die ganze Zeit? Was machst du jetzt?"

Mein Onkel Saim holt seine lederne Geldbörse von seiner hinteren Hosentasche. Schlägt sie auf. Zieht ein schwarz weiss Foto von einem Fach heraus und gibt es meiner Mutter. Ich stelle mich neben meine Mutter und schaue mit.

Mein Onkel Saim trägt eine Militäruniform, sitzt auf dem Sattel eines Pferdes, hält die Riemen in seinen Händen, schaut zu uns und lächelt.

Mein Onkel Saim ist ein sehr schöner Mann. Wahrscheinlich der schönste Mann, den ich bisher je gesehen habe. Nach vielen Jahren, als ich zum ersten Mal die Jugendfotos von Chet Baker gesehen habe, schrie ich: "Das ist aber mein Onkel Saim."

"Ja! Ich habe meinen Militärdienst als Reserveoffizier absolviert. Jetzt ist alles hinter mir. Ich bin ein freier Mann!"

"Warum bist du nicht bei der Militärschule geblieben? Du könntest irgenwann ein Pascha werden."

"Ich? Ich als Pascha? Ich lebe zum lieben, nicht zum töten."

"Du hast nie deine Vernunft in deinem Kopf gehabt."

Ich weiss nicht, was das bedeutet. Aber das merke ich mir. Wenn ich einmal erwachsen bin, werde ich immer aufpassen, dass mein Verstand niemals in meinen Kopf hinein geht.

"Ich habe ein paar Mal versucht, von dem Internat zu flüchten. Es ist mir nicht gelungen. Dafür haben sie mich ordentlich verprügelt. Aber ich bin zufrieden. Ohne die Militärschule wäre ich auf der Straße gelandet. Ausserdem dank Militärdienst habe ich meine Frau kennengelernt."

"Deine Frau?"

"Ja! Ich bin frisch verheiratet."

"Wer ist deine Frau?"

"Ich habe meinen Militärdienst in der Stadt Kirklareli gemacht. Gegenüber der Kaserne waren Wohnhäuser. Gleich gegenüber meinem Fenster hat meine Frau ihr Fenster gehabt. Und ich habe mich vor das Fenster gestellt und jeden Tag mein Hemd gebügelt. Damit sie sieht, was für ein Mann ich bin. Bügelt dein Mann auch seine Hemden selbst?"

"Natürlich nicht! Er ist ein Mann!"

"Eben! Ich bin ein Mann, der seine Hemden selbst wäscht und bügelt. Also, so habe ich sie kennen gelernt und wir haben bald geheiratet."

"Ist sie zumindest aus einer guten Familie?"

"Sie heißt Hikmet. Das bedeutet Wunder. Sie ist eine Zigeunerin."

"Was? Watte Mama sagte, der Gott hat zweiundsiebzig und ein halb Nationen geschaffen. Die Halbe Nation sind die Zigeuner. Hast du nicht was besseres gefunden?"

"Meine Kaserne war in Kirklareli. Dort leben mehrheitlich die Zigeuner. Ich könnte dort keine Japanerin heiraten."

"Aber eine Muslimin?"

"Meine Mutter war Griechin."

"Ich bin Muslimin."

"Watte Mama war Muslimin."

"Hör auf! Gott wird dich bestrafen."

Mein Onkel lacht voller Freude.

"Ich habe noch weitere Neuigkeiten. Ich habe in Bostanci einen Laden gemietet, auf der Hauptstraße. Die Leute nennen mich dort Meister Saim. Ich bin der Reparaturmann von Bostanci."

"Was bist du?"

"Reparaturmann."

"Bist du auch Zigeuner geworden? Du solltest Armeeoffizier werden!"

"Dein Mann hat die Sicherheit gewählt. Er ist Beamter. Ich habe die Freiheit gewählt. Ich habe keinen Chef, keinen Gott, keinen Pascha!"

"Schäme dich!"

"Womit kochst du?"

"Ich habe einen Gasherd, drinnen. Warum?"

"Bei Schönwetter könntest du draussen kochen."

"Wie denn?"

"Ich komme am Sonntag wieder. Du bekommst einen maltesischen Herd."

"Was bekomme ich?"

"Einen Malteser!"

Und er beginnt zu singen:

"In mir ist eine Trauer.
Weil es Abend geworden ist.
Meine Augen tun bereits weh und ich weine weiter.
Ich weiss nicht, warum."

Meine Mutter bleibt wie die Betonsäule hinter dem großen Haus still und beobachtet ihn voller Bewunderung.

Sein Gesicht bewegt sich wie die Meeresoberfläche bei einem Sturm. Und mein ganzer Körper zittert. Wir, alle drei, haben Tränen in den Augen. Ich fange an, sein Gesicht zu küssen und höre nicht mehr auf.

 

 
was bisher geschah?
weiter lesen
 
start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016