Maltiz

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
MALTIZ (=DER MALTESER)
 
Sigmundsherberg, 10. 10. 2018
 


Es ist wieder ein Sonntag. Mein Vater ist zuhause. Wir haben zu Mittag nur Weintrauben und Brot gegessen. Wir sitzen draussen. Mein Vater liest seine Zeitung. Meine Mutter schält Kartoffeln. Ich sitze auf meinem Pferd und beobachte die beiden.

Auf ein Mal taucht mein Onkel Saim neben den Rosen auf. "Enischte! (=Schwager)", schreit er. "Bitte hilf mir! Ich bin mit dem Fuhrmann gekommen."

Mein Vater lächelt. Faltet seine Zeitung zusammen. Legt sie auf den Tisch und steht langsam auf. Er geht auf meinen Onkel Saim zu. Dann gehen beide zum Gartentor und ich folge ihnen nach.

Der Fuhrmann steht neben dem Pferd und hält die Zügeln in seiner Hand. Mein Onkel Saim holt einen Blecheimer herunter und gibt ihn meinem Vater in die Hand. Er holt noch einen Gegenstand, welcher auch wie ein Blecheimer ausschaut, aber anscheinend viel schwerer wiegt als der vorherige.

Mein Vater macht bei dem Messinghahn halt. Stellt seinen Eimer darunter und dreht den Hahn auf, bis der Eimer voll mit Wasser wird. Im Eimer stehen vier grüne Flaschen Staatsmonopol-Bier (=Tekel Birasi). "Eine Flasche Bier kostet 1 Lira. Wenn die im Kühlschrank steht, kostet sie 1 Lira und 10 Kurusch." "Es ist richtig.", sagt mein Vater. "Wenn das Bier im Kühlschrank steht, muss der Kreisler Strom bezahlen."

Mein Onkel Saim sagt nichts. Bringt seinen Eimer zu uns her und stellt ihn gleich rechts neben die Tür. Dann läuft er zu dem Gartentor zurück. Mein Vater folgt ihm langsam nach und ich folge wieder den beiden.

Mein Onkel Saim nimmt einen große Jutesack vom Wagen herunter. "Holzkohle!", sagt er. Mein Vater bekommt ein Einkaufsnetz mit mehreren in Zeitungspapier gewickelten Packungen. "Nurten soll das Fleisch in den Schatten stellen und gut zu decken, gegen die Fliegen.", sagt mein Onkel Saim.

Dann gehen wir noch einmal zum Pferdewagen. Mein Onkel Saim holt noch eine große Packung herunter, mindestens so groß wie ich. Gewickelt in Zeitunspapier und geschnürt. Die aus der Packung herausstehenden roten Metallröhren glänzen sehr auffällig.

"Das ist ein Geschenk für den jungen Mann!", sagt mein Onkel Saim. "Ich repariere auch Fahrräder. Es bleiben immer wieder Einzelteile übrig. Ich habe das ganze Fahrrad aus den Resten zusammen gebaut. Dann habe ich die Farben abgeschliffen und alles neu lackiert. Glaube mir, es war sehr viel Arbeit."

Mein Vater sagt: "Ein Fahrrad ist etwas sehr teures. Ich muss dir dafür etwas bezahlen." Mein Onkel Saim sagt: "Ich muss jetzt den Fuhrmann bezahlen."

Mein Vater macht keine Bewegung. Er ist ein guter Famlienvater. Er bleibt sparsam. Sein Gehalt reicht gerade für die Miete, Betriebskosten und Essen. Er kann sich keine Extras leisten.

Mein Onkel Saim bezahlt den Fuhrmann. Der Fuhrmann zählt das Geld nach.

Jetzt nehmen Mein Vater und mein Onkel Saim die große Packung und tragen sie bis zum Haus. Dann übernimmt meine Mutter den Part von meinem Onkel und sie tragen sie in ihr Schlafzimmer.

Mein Vater rasiert sich jeden Tag in der Früh gründlich für das Amt. Am Sonntag tut er das nicht.
Mein Onkel Saim hat sich so gründlich rasiert wie ein Bräutigam vor der Hochzeit. Anscheinend ist ein Staatsbeamter wichtiger als ein Reparaturmann, wenn auch beide "arm" sind. Trotzdem sehe ich, dass die beiden einander mögen, aber gleichzeitig belächeln. Es ist eine Männerfreundschaft, aber mit der Einhaltung der Standesrangordnung. Mein Onkel Saim sagt ihm "Enischte". Er sagt ihm aber nur "Saim".

Schluss mit meiner kindlichen Neigung zum Philosophieren. Jetzt wird der "Malteser" in Betrieb genommen. Da bin ich aber sehr neugierig.

Der Malteser ist nichts als ein gewöhnlicher Blecheimer. Aber stark prepariert: Er sitzt ganz unten auf einem Blechring mit drei Füssen. Ein paar Fingerbreit nach oben ist ein Blechtürl. Das Blech der Türscheibe ist auf der linken Seite, oben und unten, länger gelassen als in der Mitte. Diese Verlängerungen wurden zylindrisch gebogen, also stellen sie Rohre dar. Gegenüber der Höhlung in der Mitte steht eine zylindrische Wölbung auf dem Eimer, also auch ein Rohr. Von oben ist ein Baunagel durch alle drei Rohre hinein gesteckt worden. So macht mein Onkel Saim eine Scharniere. Jetzt kann man die Tür auf und zu machen. Mein Onkel Saim sagt zu meiner Mutter: "Hier kannst du die Asche herausnehmen."

Der Eimer ist innen bis zu der Mitte mit Schamottziegeln gemauert. "Ich habe sie mit Lehm verputzt. Sie bleiben fest."

"Das hast du alles selbst gemacht?", fragt meine Mutter.

Auf den oberen Kanten der Ziegeln steht ein kreisförmiges Eisengitter. "Auch das habe ich selbst geschweisst. Darauf gibst du die Holzkohle.", sagt mein Onkel Saim.

Er füllt den Eimer bis zum Rand mit der Holzkohle. Meine Mutter holt den Benzinkanister, der für unseren Gasherd bereit steht. Mein Onkel Saim holt sein Benzinfeuerzeug aus seiner Hemdtasche und bringt es mit einer schwungvollen, eleganten Bewegung zum brennen. Jetzt brennen die Holzkohlen. Meine Mutter holt einen Topfdeckel und mein Onkel Saim benützt diesen zum fächern des Feuers.

"Das ist das Grillgitter.", sagt mein Onkel Saim. Das ist das beste, was die Zigeuner machen können. Ich habe sehr gute Beziehungen zu ihnen. Du kannst dieses Stück waschen so oft du willst, das rostet nie. "

Meine Mutter bringt in einem Teller die "Pirzola". Wieder ein osmanisches Wort, einen Ersatz dafür im Neutürkischen gibt es noch immer nicht. Das hat wie alles gute bei den Osmanen einen griechischen Ursprung: Brizola heisst griechisch Kotelett. Das machen die guten Fleischhacker aus den Rippen der Schafe, nach osmanischer Tradition. Mann zählt sie nach Kalem (=Schreibstift, arabisch/osmanisch).

Ja. Ein Kalem ist ein Stift aus Knochen und daranhängendem Fleischstück. Das Fleisch wird mit einem Speziellhammer flach geklopft. Danach schaut der Kalem wie eine Flagge aus. Dann geben sie Oregano darauf und so verpacken sie ihn für die Kunden. So etwas habe ich bisher noch nie gesehen.

Meine Mutter holt Besteck und Teller. Jetzt holt mein Onkel Saim den Eimer mit den Bierflaschen.
"Ist das Bier nicht Sünde?", fragt meine Mutter.
"Sicher nicht!" sagt mein Onkel Saim.

"Ich glaube dir kein Wort. Du bist ein Gauner. Mein Mann lügt nicht. Selim! Ist das Bier Sünde?"

"Mohammed kannte nur Dattelschnaps. Staatsmonopolbier hat er in der Wüste nie gesehen."

"Also keine Sünde. Wenn das nicht stimmt, kommst du auch ins Fegefeuer."

"Gerne.", sagt mein Vater.

Jetzt bekommt jeder ein "Niemalsbricht" -Glas von der Paschabahctsche-Glasfabrik. Mein Onkel Saim begiesst die Gläser langsam. Schaum kommt auf. Shaum füllt das ganze Glas. Ich beobachte das Geschehen mit einer großen Verwunderung.

Meine Mutter serviert jetzt auf dem Gasherd in Olivenöl gebratene Kartoffeln. Dazu grünen Salat, griechisch, sehr fein geschnitten, mit Zitrone und Olivenöl.

Die Pirzolas duften wie ein Traum. Es wird mir fast schwindlig davon. Mein Mund ist voll Wasser.

Jetzt holt meine Mutter die Pirzolas vom Maltiz und gibt davon in jedes Teller ein Stück. Mein Onkel Saim legt die nächste Reihe auf das Feuer.

Das ist ein Wahnsinn. So etwas Feines habe ich noch nie gegessen. Vor allem das Fett am Rand der Pirzolas, wenn es knusprig gegrillt und ein bisschen verkolht ist, schmeckt mir wie etwas nicht aus unserer Welt. Vielleicht gibt es den Himmel von meiner Mutter wirklich?

Aber das Bier... Das ist mein erstes Bier. Das kann ich nicht sofort den Himmelsgütern zuordnen. Das ist etwas Befremdendes. Was ich zuerst zur Kenntnis nehme, ist der Schaum. Der füllt und beschlagnahmt meinen Mund bis zu meiner Nase. Es ist angenehm. Es ist weich. Und erfrischend.

Aber der Geruch ist ganz fremd. Nein, sicher nicht unangenehm. Mich erinnert er ein bisschen an den Geruch des Brots, wenn das unabsichtlich nass wird.

Und der Geschmack? Süss ist das nicht. Ein wenig bitter. Gewöhnungsbedürftig. Ich möchte mich daran gewöhnen.

Meine Mutter serviert den zweiten Gang. Ich bin bereits in einer anderen Welt gelandet. Warum essen wir nicht jeden Tag auf dem malteser Herd gegrillte Pirzola? Warum trinken wir nicht jeden Tag Monopolbier? Weil wir arm sind?

"Saim!", sagt meine Mutter. "Warum hast du soviel Geld ausgegeben? Du hast jetzt selbst eine Familie. Habt ihr genug zu essen morgen?"

"Dein Gott ist groß!", sagt mein Onkel Saim und lacht. "Morgen wird bestimmt jemand kommen, der über ein verstopftes europäisches Klo klagt. Dann habe ich wieder etwas zu essen."

"Musst du jeden Tag kloputzen?", sagt meine Mutter.

"Ich repariere alles. Auch Hunde, Katzen und Menschen."

Meine Mutter lacht: "Deine Vernunft wird nie in deinen Kopf zurück kommen."

Habe ich jemals soviel Freude gehabt beim essen? Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht als Baby? Jetzt trinke ich mein zweites Glas Bier. Mir geht es einfach gut. Ich sehe, dass jetzt alle Anwesenden glücklich sind. Das ist schön. Schön. Sehr schön.

Ich will reich werden. So kann ich jeden Tag Pirzola essen und Bier trinken.

Und das Essen schmeckt besser, wenn noch jemand ausser meinem Vater und meiner Mutter dabei ist.

Wenn ich einmal reich bin, werden wahrscheinlich nicht alle anderen Menschen so reich sein wie ich. So werde ich alle Armen einladen, jeden Tag mit mir gemeinsam zu essen.

 

 
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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016