Fare Bey

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
FARE BEY
 
Sigmundsherberg, 19. 12. 2017

 

Sonntag. Mein Vater ist zu Hause. Gestern ist er wieder mit dem Fuhrmann gekommen. Er hat mit einer Scheibtruhe stunden lang Brennholzscheiteln zu uns geholt und unter dem Jasminbaum gehäuft. Mein Vater ist sehr kräftig. Ich bin stolz auf ihn. Er trägt jetzt kein Hemd, sondern nur einen Leibchen ohne Ärmel.

Jetzt ist unsere kleine Welt unter dem Jasminbaum voll mit Brennholz. Wir haben keinen Platz mehr zum leben.

Mein Vater beginnt das Brennholz an der Mauer unter dem Fenster von ihm und meiner Mutter zu stapeln. Ich schaue zu. Dann hole ich auch ein Scheitel, und stelle es auf den Stoss.

"Nicht so!", sagt mein Vater."So musst du es machen. Sonst können wir nicht weiter hinauf. Jedes Scheitel muss richtig sitzen".

Also darf ich weiter machen. Endlich darf ich für meine Eltern nützlich sein.

Ich hole noch ein Scheitel und stelle es sorgfältig auf den Stapel. Versuche ich es nach links und rechts zu bewegen. Es sitzt fest.

"Gut so!" sagt mein Vater. Jetzt nehme ich ein Stück in der rechten und ein Stück in der linken Hand auf einmal. Es geht auch.

Mein Vater bringt eine volle Brustladung auf ein mal. Das kann ich nicht. Das macht aber nichts. Er ist viel grösser als ich. Ich "arbeite" weiter. Ich bin sehr aufgeregt. Jetzt tue ich nicht "spielen", sondern "arbeiten" wie mein Vater.

"Das machst du sehr gut", sagt er. Ich schmelze vor Glück.

"Du wirst später sicher ein berühmter Maschinenbauingenieur werden.

Wir steigern uns hinein. Wir keuchen, wir schwitzen. Endlich bin ich mit meinem Vater vereinigt.

"Jetzt machen wir eine Pause.", sagt mein Vater.

Wir setzen uns auf unsere griechischen Sesseln. Das ist endlich die Gelegenheit, meinen Vater kennen zu lernen.

"Vater!"

"Ja?"

"Meine Mutter sagt immer 'Gott'. Was ist 'Gott'?".

"Gute Frage. Kennst du die Araber?".

Als wir in Suadiye wohnten, hat mir meine Mutter eine Araber-Puppe genäht. Das war eine Puppe aus schwarzer Baumwolle mit roten Lippen aus Samt. Ich wollte meinen Araber näher kennen lernen. Ich habe seine Brust mit meinen Fingernägeln zerfetzt. Es ist nur Stroh herausgekommen.

Früher in Istanbul, am osmanischen Hof, wurden die schwarzafrikanischen Sklaven als kleines Kind kastriert und später als Haremswächter eingesetzt. Sie wurden nach einer mittelalterlichen Zivilisation in Ostafrika "Zandj", "Zendji" genannt.

Mein Vater nennt die Schwarzafrikaner "Zendji". Für meine Mutter sind sie "Araber". Wenn ich nicht brav bin sagt meine Mutter: "Tue weiter so. Bald kommt der Araber!" Ich verstand damals unter Araber einen Mann mit einem schwarzen Gesicht.

"Die Araber waren früher ganz wild.", sagt mein Vater. "Sie haben einander den Kopf abgeschlagen. Dann kam ein kluger Araber, der hieß Mohammed, und sagte ihnen: Ihr sollt aufhören damit. Es gibt einen Gott, den niemand sieht. Er sieht aber alles, was ihr tut. Ihr sollt friedlich leben. Wer einen anderen denn Kopf abschlägt, den wirft Gott ihn in das Fegefeuer. Wer ganz brav lebt, kommt in den Himmel. Dort gibts Kakifrüchte. So erfand Mohammed denn Gott der Araber. Wir sind aber keine Araber."

Meine Mutter steht hinter uns. Sie legt ihre Fäuste auf ihre Hüften. Anscheinend hört sie uns seit einer Weile zu.

"Ist es nicht genug, dass du in der Hölle verbrennen wirst? Willst du auch den kleinen Knirps verderben?".

"Es gibt keine Hölle und keinen Himmel. Wir sollen ihn nicht mit solchen Blödsinn vergiften!".

Jetzt sind meine Eltern nicht mehr Freunde. Ich habe sie mit meiner Frage getrennt. Ich bin schuldig.

Ich glaube eher meinem Vater. Ich kenne aber meine Mutter besser. "Gott soll es dir verzeihen!", sagt meine Mutter und geht wieder zurück ins Haus.

Mein Vater und ich setzen unsere Tätigkeit fort. Bald sind wir auf der Höhe des Fensters. Wenn wir weiter machen, bekommen meine Eltern kein Licht mehr.

"Weiter!"

Wir tragen weiter die Holzscheiteln an die Mauer und stapeln sie weiter. Es wird immer höher und höher. Jetzt ist das Fenster hinter dem Holz unsichtbar geworden. Ich erreiche diese Höhe nicht mehr.

Ich werde jetzt hinein gehen und meine Mutter trösten.

Vorher wage ich aber noch einen Versuch:

"Vater! Wie war dein Vater?"

"Ich habe dir bereits gesagt: Ich kenne ihn nicht!".

Pause.

Jetzt will ich aber wirklich frech sein:

"Vater! Kannst du mir von deiner Kindheit etwas erzählen? Mit wem hast du gespielt? Wie war deine Kindheit?"

Jetzt ist er nachdenklich. Er schaut auf die Erde.

Es vergeht einige Zeit. Er hebt seinen Kopf auf. Schaut mir in die Augen:

"Ich habe keine Kindheit gehabt!".

Wir schauen uns einige Zeit noch gegenseitig in die Augen.

Auf seinem Gesicht rührt sich nichts. Ich habe aber das Gefühl, dass ich ihm mit meinen Fragen weh getan habe. Ich drehe mich um und laufe ins Haus.

Meine Mutter pumpt den Gasherd.

"Mutter!" sage ich, "Ich werde bei dir bleiben. Mit dir in den Himmel gehen und Kakifrüchte essen."

"Du idiot!", sagt sie. "Du bist zu klein, das alles zu begreifen. Es ist nicht nur der Gott. Es gibt auch Engeln. Sie haben Flügeln. Sie sind so groß wie wir. Sie fliegen die ganze Zeit um uns herum und beobachten uns."

"Ich habe noch nie fliegende Menschen gesehen!".

"Du Idiot, du. Du kannst sie nicht sehen. Aber sie sehen dich."

Meine Mutter ist sehr zornig. Leben mein Vater und meine Mutter in verschiedenen Welten? War das immer so? Oder bin ich daran schuld?

"Pass vor allem auf die Djins auf!", sagt sie. "Sie sind überall unter der Erde begraben. Wehe wenn du auf sie pinkelst, kommen sie heraus und schlagen dich. Dann bist du querschnitt gelähmt."

Ich habe Angst. Ich habe Schuldgefühle. Ich fühle mich nicht wohl. Ich muss etwas lustiges finden. Ich gehe wieder hinaus.

Da kommt der Fahri Bey: Er wird seinen Schlauch an den Messinghahn anschliessen und die Rosen anspritzen.

In unserem alten Holzhaus hatten wir viele Mäuse gehabt. Mein Vater stellte überrall Mäusefallen auf.

Maus heißt türkisch "Fare".

"Fahri" ist arabisch, und wenn ich mich nicht irre, bedeutet es "Freiwillig" oder "Ehrenamtlich".

In istanbuler Dialekt spricht man dieses Wort als "Fari". Also "Fari Bey". Das klingt wie "Fare Bey".

Das finde ich sehr lustig.

Ich rufe ihn an:

"Fare Bey!".

Er dreht sich um. Wird er jetzt auch meine Sohlen schlagen? Ich glaube nicht. Mein Vater wird mich beschützen.

Ich rufe noch ein mal. Aber dies Mal ein bisschen leiser. Ich habe doch Angst.

Er läuft auf einmal auf mich zu. Die Tür ist offen. Ich gehe hinein. Er schlägt die Tür laut stark ganz auf an die Mauer und kommt herein. Meine Mutter steht hinter mir und trocknet ihre Hände an ihrer Schürze. Ich sehe aus der Tür, dass auch mein Vater zu uns kommt.

Fahri Bey hebt seine rechte Hand auf. Auf einmal knallt es auf meiner linken Wange. Ich sehe viele kleine Sterne. Ich verliere das Gleichgewicht. Ich törkel herum und schluchze. Tränen rinnen von meinen Wangen herunter.

Fahri Bey sagt zu meinem Vater:

"Es darf nicht wieder passieren!"

Mein Vater sagt leise:

"Es wird nicht wieder vorkommen."

Meine Mutter schreit meinen Vater an:

"Tu etwas! Selim! Tu etwas!".

Mein Vater heißt Hüseyin Selim. Selim tut nichts. Er steht da wie ein Schneemann. Fahri Bey geht wieder zurück. Mein Vater kommt herein. Ich schluchze noch immer.

Nach einer Weile sagt mein Vater zu mir: "Pass auf, was du tust. Wegen dir können wir obdachlos werden."

Daran habe ich nie gedacht. Wegen mir? Obdachlos?

"Du sollst ein Mann sein?", sagt meine Mutter. Mein Vater steht da und sagt nichts. Meine Mutter spricht nicht mehr mit ihm. "Ich werde mich scheiden lassen!", sagt sie ohne ihn anzuschauen.

Wie zerbrechlich ist die Welt der Erwachsenen! Ich habe alles zerstört!

 

 

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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016