Das neue Haus

Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
DAS NEUE HAUS
19. 11. 2017, Sigmundsherberg
 

 

Vor uns steht ein grün lackiertes Gartentor aus Eisenprofil mit zwei Flügeln. Auf der rechten Seite auf dem Türstock ist eine elektrische Glocke angebracht.

So einen Wunderknopf habe ich noch nie gesehen: Mein Vater drückt auf den Knopf und es erscheint sofort ein alter Mann auf der breiten Treppe und kommt fast gelaufen zu uns.

Er macht den rechten Flügel auf und kommt heraus.

Er und mein Vater schütteln die Hände und begrüssen einander.

Was mir auffiel, dass mein Vater mit diesem Mann anders spricht wie mit dem Fuhrmann. Die Begrüßungswörter sind anders, die Körpersprache ist anders.

Mein Vater ist ein Zollbeamter. Später erfahre ich, dass dieser Mann Raschid Bey heißt und ein pensionierter Polizeibeamter ist. Was ich bald auch lernen sollte, dass es eine altosmanische Tradition gibt, dass wenn die Beamten einander begrüßen, sie ihren Respekt an den Staat demonstrieren.

Jetzt kommt noch ein alter Mann herunter. Er ist ein bisschen größer, ein bißchen dicker und bewegt sich auffällig langsamer. Das ist Fahri Bey. Beide Männer haben auf ihren vorderen Schädeldecken keine Haare.

Wieder eine staatliche Begrüßung mit Verbeugung. Meine Mutter wird nachher begrüßt. Weniger staatlich. Auch meine Schädeldecke wird von den beiden Männern begrapscht.

Jetzt kommen wir vom Gartentor hinein und gehen auf einem betonierten breiten Gehsteig zwischen den Rosen bis zum großen Haus. Wie wir an der Hausmauer ankommen, biegen wir nach rechts und gehen wir bis zur Ecke. Dann biegen wir nach links. Hier wird der Betonweg schmäler.

Wir folgen diesem Weg bis zum Ende des großen Hauses. Links von uns ist eine eckige Säule. Rund und eckig kenne ich bereits und sie ist eckig und so breit wie ich. Ich hebe meinen Kopf hinauf. Oben überdeckt uns eine Betondecke. Also ruht ein Teil des großen Hauses auf dieser Säule. Hinter der Säule und unter dem zweiten Stock ist ein von zwei äusseren Seiten nicht zugemauerter Raum, so groß wie ein großes Zimmer. Auf der Mauer gegenüber uns ist ein Wasserhahn aus Messing. Daneben auf einem Hacken hängt ein zusammengerollter Schlauch.

Nach der eckigen Säule hört der Betonboden auf. Ab jetzt ist der Boden gestampfte Lehmerde. Nach ein paar Schritten auf der Lehmerde strahlt weiss verkalkt eine kleine Hütte. Also unser neues Haus ist ein (in trotz brutalsten Represalien des Staates noch immer nicht ausgelöschten früheren Sprache des Landes osmanisch) "Muschtemilat", das heißt zu deutsch Bauhütte.

Raschid Bey geht voran. Dahinter Fahri Bey, dahinter mein Vater, dahinter meine Mutter und dahinter ich.

Raschid Bey sperrt die Holztür auf. Wünscht meinem Vater ein glückliches und gesundes Leben im neuen Zuhause und gibt ihm den Schlüssel. Dann geht er zur Seite und mein Vater tritt zögernd in das Haus hinein. Noch mehr zögernd folgt ihm meine Mutter. Ich bin aber neugierig und schleiche mich ohne Zögern unter der Axel meiner Mutter hinein.

Gleich neben der Tür gibts einen Schalter. Mein Vater drückt darauf. Von der Decke hängt das Wunder von Thomas Edison hinunter.

Es ist ein kleiner Raum mit Betonboden und drei Holztüren gegenüber, links und rechts von uns.
Mein Vater öffnet die Tür gegenüber uns. Das ist eher ein Kasten als ein Raum.

In den Betonboden ist ein Loch gebohrt. Da hinein werden wir scheißen und pinkeln.

Die Tür auf der linken Seite öffnet sich zu einem Raum, wo später ein Doppelbett und ein Kleiderkasten hineinpassen könnten. Da gibts auch ein Fenster nach aussen, das wir draussen bald mit unserem Brennhoz verdecken sollten.

Die Tür auf der rechten Seite öffnet sich zu meinem Zimmer. Das hat nur ein kleines Fenster nach hinten, woraus man nichts als einen Maschendraht und dahinter hochgewachsene Disteln sieht.

Jetzt beginnen wir unsere Habseligkeiten hinein zu tragen.

Diesmal helfen auch der Fuhrmann und beide Pensionisten. Trozdem kommt es mir vor, dass abladen länger dauert als aufladen.

Der Fuhrmann bekommt noch ein Trinkgeld für die Hilfe. Dann verabschieden sich alle Herren und mein Vater macht die Tür zu.

Obwohl einiges in die Räume links und rechts getragen worden war, steht ein riesiges Gerümpel im kleinen Vorraum. Und in der Mitte vom Betonboden sitzen wir.

Jetzt herrscht plötzlich eine unerträgliche Stille. Mir ist zum schreien. Ich weiss aber, das ich gross genug bin um zu wissen, dass ich vor meinen Eltern die Stille nicht brechen darf und nicht mehr zu klein bin, das nicht zu wissen. Die Stille erdrückt mich. Ich ersticke.

Endlich sprach mein Vater:
"Nurten!" So nannte man meine Mutter, obwohl sie anders hieß. "Hol endlich Wasser. Es wird bald dunkel".

Meine Mutter mit einem größeren und ich mit einem kleineren Topf gehen hinaus. Mein Vater macht sich daran, diverse Bettdecken in den Räumen links und rechts auf den Betonboden zu legen.

Der Wasserhahn aus Messing gegenüber der eckigen Säule ist unser Wasserquelle. Später erfahre ich, dass das Wasser aus dem Stausee "Terkos" kommt und zum trinken geeignet ist.

Inzwischen stellt mein Vater eines unserer wichtigsten Möbelstücke in den Vorraum: Küp. Das ist ein Tonkrug ohne Ohren und Schnabel und ist so groß wie ich. Oben breit, unten schmall und natürlich rund. Wir bringen von draußen Wasser und füllen den Küp.

Nach einer langen Zeit ist der Küp halbvoll. Meine Mutter und ich keuchen.

Mein Vater holt die "Maschrapa", das ist eine Kanne aus verzinktem Kupfer, und taucht sie in den Küp hinein. Jetzt leert er die Maschrapa in eine andere Kanne. Das ist "Sürahi", unsere Trinkwasserkaraffe für die Tafel.

Anschließend deckt er den Küp sorgfältig mit einem runden Blechtablett zu.

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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017