Fluchtversuch

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
FLUCHTVERSUCH
 
Sigmundsherberg, 01. 11. 2018
 

Ich sitze unter dem Jasminbaum auf meinem Pferd. Meine Mutter hat mir eine dicke Schnitte Brot mitgegeben. Sie hat vorher darauf Margarine Sana geschmiert und Kristalzucker gestreut.

Der Jasminbaum duftet nicht mehr. Mein Brot schmeckt mir nicht. Ich habe aber Hunger.

Ich mag dieses Pferd nicht mehr. Mein altes, krankes Pferd hat gejammert, geweint, geschrien. Dieses Pferd macht kein Geräusch. Wahrscheinlich ist es tot.

Die Spatzen sind auch weg, auch die weissen Schmetterlinge... Hier gibt es keine Katzen, keine Hunde. Auch keine Kinder zum spielen.

Meine Mutter kommt. Sie schleppt das große Paket von meinem Onkel Saim hinter sich her. In der linken Hand hat sie ihre Schneiderschere. Sie kommt bis zu mir. Legt das Paket auf die Erde. Holt sich einen Stuhl und setzt sich. Shweigend schneidet sie langsam den Spagat von mehreren Stellen auf. Wickelt die Zeitungspapiere aus und zerknüllt sie in ihrer Hand.

"Unglaublich!", schreit sie.

Ein Fahrrad liegt am Boden. Der Glanz der knallroten Rohre macht mich sofort verliebt.

"Schau, was du bekommen hast!", sagt sie. "Unglaublich!"

Ich stehe auf. Ich hocke neben dem Fahrrad und beobachte es. Meine Mutter nimmt mein Pferd mit und geht wieder nach hause.

...

Ich richte mein Fahrrad langsam auf. Ich gehe ein paar Schritte zurück und betrachte mein Fahrrad. Es ist eines der schönsten Gegenstände, die ich bis jetzt gesehen habe. Wie sehr muss mein Onkel Saim mich geliebt haben.

Mein Fahrrad ist knallrot wie Blut. Hat zwei sehr große Räder. Mein Fahrrad ist so groß wie ich. Und auf der linken Seite der Lenkstange steht ein großer Spiegel. Ich betrachte in dem Spiegel mich selbst. Erst mein Gesicht. Dann gehe ich zurück und sehe mich im ganzen. Der Spiegel ist ganz groß.

Von der Mitte des hinteren Rades kommen links und rechts zwei Stangen heraus. Am Ende der Stangen ist jeweils ein kleines Rad montiert. So bleibt mein Fahrrad stehen.

Unten in der Mitte ist ein Zahnrad. Daraus steigen die Pedale links und rechts heraus. Auf dem Zahnrad ist eine Kette. Ich berühre die Kette. Die Kette ist frisch geschmiert. Mein Zeigefinger wird schmutzig. Ich reibe meinen Finger auf der Erde zum putzen. Ich halte ein Pedal mit der rechten Hand und beginne es langsam zu drehen. Mein Fahrrad bewegt sich nach vorne.

Soll ich darauf steigen? Ich habe ein bißchen Angst. Vorsichtig steige ich hinauf und setze mich auf den Sattel. Zuerst wackelt das Fahrrad heftig aber bleibt danach stabil. Ich bewege meinen Oberkörper nach rechts und links. Nein, ich falle nicht hinunter.

Langsam fange ich an, die Pedale zu treten und mein Fahrrad kommt voran. Bald ist aber unser Garten fertig duchquert. Was nun? Ich drehe die Lenkstange nach links und versuche das Fahrrad zurück zu drehen. Es geht nicht. Kein Platz. Ich drehe wieder nach rechts, bis ich an die Hortensien ankomme. Jetzt drehe ich wieder nach links. Dann drehe ich mein Fahrrad zurück. Jetzt geht es. So beginne ich nach links Kreise zu zeichnen. Es geht.

Dann zeichne ich eben Kreise. Zuerst langsam, dann schneller. Dann schneller und schneller und schneller. Mir ist schwindlig. Ich halte an. Pause.

Jetzt werde ich versuchen, einen 8er zu zeichnen. Diesmal beginne ich nach rechts. Ich zeichne einen Halbkreis. Dann versuche ich, weiter zu der linken unteren Hälfte der 8 zu kommen. Es geht nicht. Ich habe die Mauer unseres Hauses bereits erreicht.

Verzweiflung. Sitzen. Auf den Boden schauen. Augen zu machen. Denken.

Mit dem Fahrrad bin ich schneller als zu Fuß. Ich könnte mit meinem Fahrrad die große Welt entdecken. Dort gibt es Hunde, Katzen, Pferde, Esel, jede Menge Spielzzeug, sogar Kinder. Ja, vor allem Kinder, Spielkameraden...

Aber wenn ich hinaus will, muss ich den Weg neben dem Rosengarten durchfahren. Und das darf ich nicht. Und was wird passieren, wenn ich es trotzdem tue?

Meine Mutter ist seit langem nicht zu sehen. Sie ist im Haus und arbeitet. Ich steige hinunter, Nehme mein Fahrrad ins Schleptau und durchquere den Rosengarten.

Ich bleibe ohne Bewegung und horche. Es ist absolut still. Warum habe ich das früher nicht versucht?

Jetzt bin vor dem Gartentor.

Um das aus Eisenprofilen gebaute Gartentor elektrisch zu öffnen, gibt es draussen an der Mauer einen Knopf. Noch einen Knopf gibt es vor der Haustür des großen Hauses. Beide Knöpfe sind für mich jetzt nicht erreichbar. Wenn ich die Tür nicht öffnen kann, ist hier das Ende der Welt für alle Ewigkeit.

So! Rechts ist ein Riegel. Daran hängt ein komisches Gerät. Daran hängt ein Kabel. Ich versuche den Riegel zu schieben. Es braucht viel Kraft. Aber es geht. Ich habe es geschafft. Die Tür ist offen. Ich ziehe die Tür langsam zu mir. Sie ist ganz offen. Ich lasse die Tür los und will mit meinem Fahrrad...

Die Tür geht sofort wieder zu. Automatisch.

Ich gebe nicht auf. Noch einmal. Das Tor ist einen Spalt offen. Ich ziehe es weiter herein. So kann ich mich jetzt davor stämmen. Ich stämme das Tor weiter mit meinem Rücken nach hinten und schleppe gleichzeitig mein Fahrrad vor mir.

Unglaublich. Ich hätte nie gedacht, dass es so leicht ist, in die große Welt zu gelangen.

Jetzt ist das große Haus hinter mir. Ich bin auf der staubigen Lehmstrasse vor dem großen Haus.

Diese Straße geht nach links und rechts ein Stück weiter. Rechts und links von ihr sind Asphaltstraßen. Ich will zu der Straße rechts. Wenn ich dorthin gelange, kann mich niemand mehr stoppen.

Vor mir liegt aber unendlich langes Brachland. Nicht mehr bebaute Felder. Hier muss ich üben. Ich überquere die Trasse. Jetzt bin ich auf dem Feld. Hier ist der Boden nicht glatt. Mein Fahrrad hupft. Ich muss mich sehr bemühen, um nicht um zu fallen.

Jetzt stehe ich gegenüber dem großen Haus.

Ich werde meine Eltern bald verlassen. Für immer! Werde ich etwas vermissen? Meinen Vater? Ich kenne ihn kaum. Meine Mutter? Sie ist meine Freundin. Ich kann sie immer wieder besuchen.

Und...

Es geschieht ein Wunder! Links von mir sehe ich Kinder. Ich weiss nicht, wie man fremde Kinder anredet. Ich zähle sie. Ich kann bis Zehn zählen. Das hat mir mein Vater beigebracht. Sie sind acht Kinder.

Sie sind auf der Gürtelbergstrasse (=Kayisdagi Caddesi). Dort fährt selten aber immer wieder ein Auto.

Die Kinder haben mich gesehen. Ich winke ihnen mit meiner ganzen Kraft. Sie laufen in meine Richtung.

Keiner hat ein Fahrrad. Nur ich. Ich habe aber keine Erfahrung mit einem Fahrrad. Ich möchte mein Fahrrad ihnen anbieten. Alle sollen mein Fahrrad benützen. Dann tauschen wir die Erfahrungen aus.

Die Kinder kommen immer näher. Es sind nur Buben. Kein Mädchen ist dabei. Ich sehe, dass einige Kinder keine Schuhe haben. Jetzt sind sie bei mir. Ihre Gesichter sind schmutzig. Ihre Hände sind schmutzig. Ihre Bekleidung ist zerfetzt.

Ein Bub ist ein bisschen älter als die anderen. Er schaut mich sehr böse an.

"Was machst du hier?"

"Ich? Ich fahre Rad.", sage ich.

Er sagt zu den anderen ganz laut:

"Er ist ein Reichen-Kind! Er hat sogar ein Fahrrad."

Mit seinen beiden Fäusten gibt er auf meine Brust einen kräftigen Stoss. Ich falle um.
Bevor ich verstehe was hier los ist, kommt er zu mir und tritt mit seinen Füßen auf meinen Bauch. Sowas habe ich noch nie erlebt. Er hat Schuhe. Es tut sehr weh. Mein rechter Fuss ist an das Fahrrad geklemmt. Ich kann nicht aufstehen. Jetzt kommen alle Kinder und jeder versucht, von mir ein noch freies Körperteil zu finden und zu schlagen. Meine Nase blutet. Ich nehme den Geschmack meines Blutes wahr.

Jetzt suchen sie Steine im Feld. Mit Steinen schlagen sie mein Fahrrad. Von dem großen, schönen Spiegel fallen Glassplitter hinunter. Es bleibt nur ein Blech übrig. Ich stehe auf. Ich kann mein Fahrrad nicht allein lassen und davon laufen. Ich kann auch nicht mit diesen Buben raufen. Ich weiss nicht, wie man das tut.

Ich stehe an der Seite und schaue zu. An vielen Stellen wurde die knallrote Farbe hinunter geschlagen. Jetzt sieht man nur braune Eisenrohre. Die Kette hängt noch an dem Zahnrad aber liegt am Boden. Die zwei Stangen für die Hilfsräder hinten sind zerdrückt. Mein krankes Fahrrad liegt am Boden.

So schnell geschah alles. Der ältere Bub reibt lautstark seine Hände aneinander.
"Ich möchte dich nie wieder hier sehen!", sagt er zu mir. Dann dreht er sich um und zu den anderen: "Gehen wir!" Sie drehen sich um und gehen.

Die Tränen rollen von meinen Wangen hinunter. Ich sage nichts. Mein Fahrrad steht nicht mehr auf. Auch die Reifen sind geplatzt. Ich halte das vordere Rad fest und schleppe mein krankes Farhrrad hinter mir.

Es wird langsam kühl. Ich habe Durst und Hunger. Ich gehe langsam zurück nach Hause.
Was waren das für Kinder? Warum sagte er "Er ist ein Reichen-Kind!"? Warum haben manche Buben keine Schuhe gehabt? Sind sie noch ärmer als wir? Gibt es noch ärmere Menschen als wir?

Ich stehe vor dem Eisentor. Von lauter schleppen keuche ich bereits. Die Hausbesitzer sind nicht zu sehen. Ich drücke den elektrischen Knopf und stämme mich sofort gegen die Tür. Langsam schleppe ich meine Last hinein.

Ich gehe neben dem Rosengarten vorbei. Jetzt stehe ich neben der rechteckigen Betonsäule. Meine Mutter sitzt vor dem Haus und schält Kartoffeln. Sie sieht mich sofort. Ich bleibe stehen.

Sie steht langsam auf und kommt in meine Richtung. Sie hält ihre Hände weit von ihrem Körper offen. Sie bleibt vor mir stehen und schaut mich sehr böse an.

"Wo warst du?"

Ich sage nichts.

"Was hast du mit deinem Fahrrad gemacht? Hast du dein teures Fahrrad kaputt gemacht?"

Sie hält meine Haarlocken fest und neigt meinen Kopf nach hinten. Sie schaut mich von oben an und knirscht ihre Zähne. Ich habe Angst.

Sie hebt ihre linke Hand hoch und auf einmal...

Es knallt!

Meine linke Wange brennt. Mir wird schwindlig.

Sie zerrt mich zum Messinghahn. Mit groben Bewegungen wäscht sie mein Gesicht. Sie tut mir weh.

"Dein Vater soll dich nicht so sehen! Sag ihm ja nichts!"

Meine Mutter ist nicht mehr meine Freundin. Sie hat mich abgestoßen.

Bald wird mein Vater kommen. Wahrscheinlich wird er mein krankes Fahrrad sehen.

Was wird er sagen? Wird auch er mich schlagen?

.....

Wir haben gegessen. Sitzen um den runden Holztisch am Boden. Mein Vater liest seine Zeitung. Meine Mutter serviert ihm seinen Kaffee.

"Selim! Weisst du, was er heute gemacht hat?"

Mein Vater schaut sie fragend an.

"Er hat sein teures Fahrrad kaputt gemacht"

"Nicht wichtig.", sagt mein Vater. "Ich bin nie Rad gefahren. Einen Mangel habe ich deswegen aber nie gespürt. Ein Junge braucht kein Fahrrad. Er wird bald in die Schule gehen. Dann hat er keine Zeit für blöde Spässe."

Und ließt seine Zeitung weiter.


 
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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016