Der Herbst

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
DER HERBST
 
Sigmundsherberg, 19. 08. 2019
 
 

 

Ich dachte, dass sich in meiner kleinen Welt niemals etwas verändern würde. Ich habe mich geirrt. Es tut sich doch vieles und alles auf einmal.

Die Blätter der Bäume sind gelb und rot geworden. Seltsame Farben haben sie. Grüne, braune, schwarze Punkte haben sie auch. Es fallen immer mehr herunter. Und eine leichte Windbrise kommt vom Meer zu uns und schleppt sie hin und her. Ich höre andauernd ihre leise Stimme rascheln und versuche sie zu verstehen.

Mein Schatten ist länger geworden. Und der Bauch meiner Mutter wird immer größer. Ich frage sie aber nicht.

Und immer wieder sehe ich die Schwalben am Himmel fliegen. Sie fliegen zusammen wie die Weintrauben. Früher waren sie nicht da. Manchmal höre ich sie schreien. Was schreien sie so? Wo waren sie früher? Wohin fliegen sie?

Und auf einmal will ich nicht mehr von den selben Gläsern trinken wie meine Eltern. Auf einmal ekelt es mich. Wir haben diese "Zerbricht-nie-Gläser" von der Paschabahtschen Glasfabrik. Ich glaube 6 Stück. Ich habe eines für mich separiert. Ich bringe mein Glas in mein Bett. Und wasche es selbt.

Meine Mutter holt mit einem Blecheimer Wasser vom Messinghahn. Gießt es in eine Emailschüssel. Die Schüssel kommt auf den Gasherd. Meine Mutter pumpt dann den Gasherd bis das Wasser kocht.

Dann nimmt sie die Schüssel herunter und stellt sie vor der Haustür auf die Erde. Dann holt sie noch ein mal Wasser. Gießt einen Teil in die Schüssel und kühlt es ein bisschen ab. Dann gibt sie Schmierseife (sie nennt sie "arabische Seife") in das Wasser und rührt sie bis es schäumt.

Dann gibt sie das Geschirr einzeln hinein, reibt es, und dann gibt sie es in einen Eimer. Dann schüttet sie das schäumende Wasser ins Klo und holt wieder frisches Wasser. Dann werden die einzelnen Geschirrstücke abgespült, mit einem weissen Tuch abgetrocknet und in dem trockenen "Gaz-Tenekesi" gesammelt.

Die ganze Prozedur ist sehr mühsam und dauert sehr lang.

Ich stecke den Zeigefinger meiner rechten Hand in die Schmierseife, nehme mein Glas mit, und gehe zum Messinghahn. Reibe es unter kaltem Wasser und fertig.

Vor einigen Tagen hat sie mich dabei erwischt.

"Was machst du?"

"Ich wasche mein Glas"

"Was machst du?"

Ich wasche Geschirr."

"Du wirst ein Mann. Männer waschen niemals Geschirr. Hast du deinen Vater ein mal Geschirr waschen gesehen? Gib das Glas mir!"

"Ich will nicht!"

Nach einer kräftigen Watschen war das Glas weg. Ich habe nicht geweint, nicht geschrien.

Einige Tage habe ich kein Wasser getrunken, ausser direkt vom Messinghahn. Irgendwann beim Abendessen hat mein Vater bemerkt, dass ich kein Wasser trinke. Dann hat meine Mutter alles erzählt, aber die Watschen nicht.

Nach einer langen Diskussion zwischen ihnen bekam ich mein Glas zurück. Sofort separierte ich ihn, auch eine Gabel und einen Löffel.

Jetzt ist das Glas unter meinem Bett und Gabel und Löffel sind auch drinnen.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange meine Überempfindlickeit gegen von den anderen bereits benützte Gläser gedauert hat. Ich kann mich erinnern, dass ich später öfters aus fremden Gläsern getrunken habe, auch wenn sie nicht gewaschen waren.

Bald hat meine Mutter ihre Meinung geändert. Zuerst durfte ich nicht Geschirr waschen, dann war ich Jahre lang ihr Küchengehilfe.

Das wichtigste Ereignis ist aber "Önlük".

Es gibt noch immer ein "Istanbul", wo mein Vater arbeitet. Und dort gibt es alles. Eines Abends bringt mein Vater von Istanbul ein Stück Stoff, gewickelt in eine Zeitung mit. Es ist schwarz, glänzt ganz schön und heißt "Patiska".

Damals wusste ich nicht, dass das ein Stoff aus Baumwolle ist. Diese Art von Stoffgewebe in Frankreich von Cambraili Baptiste erfunden wurde und das Wort "Patiska" aus dem französischen "Batiste" kommt.

Daraus wird meine Mutter ein "Önlük" (=Schürze) machen. Das gehört zur Schuluniform.

Seit gestern gibt sie mir keine Ruhe. Immer wieder ruft sie mich ins Haus hinein und nimmt Messungen. Sie hat ein langes, grünes Massband aus irgendeinem glänzenden Stoff. Sie wickelt es um meinen Bauch, um meinen Hals, hält es an meine Schenkeln, meine Schultern...

Ich hasse es. Ich will nicht, dass sie mich rundherum angrapscht.

Seit in der Früh sitzt sie vor ihrer "Singer".

Jetzt muss ich wieder hinein. Sie hielt die Schürze an meine Brust. Jetzt muss ich meine Arme in die Ärmel stecken. Erst die rechte Hand. Am Knöchel ist ein Gummiband hinein genäht. Nach ein bißchen herum drehen kommt meine Hand hinaus. Dann die linke Hand. Die Länge der Ärmeln passt.

Jetzt macht sie hinten in die Schürze die Knopflöcher. Sie werden mit der Hand gestopft. Mühsam. Es dauert lang. Ich darf wieder in den Garten gehen.

Ich sitze auf der Erde und beobachte die herumfliegenden Blätter.

Jetzt werde ich wieder hinein gerufen. Sie hält die Schürze an meine Brust. Ich stecke erst die rechte, dann die linke Hand hinein. Sie geht hinter mich und macht die Knöpfe zu.

Also wenn ich das an- und ausziehe brauche ich immer ihre Hilfe.

Jetzt sind die Knöpfe zu. An meiner Bauchhöhe ist auch ein Gummiband hinein genäht. Das ist aber sehr eng. Drückt auf meinen Bauch. Ich kann kaum atmen. Ich bin sehr genervt. Ich schreie lautstark. Sie zieht mir die Schürze aus und ich gehe wieder in den Garten.

Noch einmal Probe. Diesmal passt alles. Sie zieht an den Säumen ein bißchen herum. Alles passt genau.

Jetzt bringt sie ein kleines Päckchen aus Zeitungspapier. Drinnen ist etwas weisses. Sie nimmt es heraus. Wickelt es um meinen Hals und macht es zu. Das ist der weisse Uniformkragen. Er ist nicht aus Papier. Er ist steif. Ich weiss nicht, was für Material das ist. Es kratzt. Ab jetzt habe ich immer eine rote Naht um meinen Hals.


Wir gehen zum Spiegel vor dem Kleiderkasten. Ich schaue wie eine kleine Ente mit einem Hundehalsband aus. Ich gefalle mir nicht. Trotzdem bedanke ich mich. Ich weiss, dass sie dafür sehr lange gearbeitet hat.

Ab jetzt werde ich fünf Jahre lang diese Sträflingsuniform tragen.

 
 
 
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start: 19 august 2019, up-date: 19 august 2019