Besuch bei den Hausbesitzern

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
BESUCH BEI DEN HAUSBESITZERN
 
Sigmundsherberg, 15. 12. 2017

 

Wieder Sonntag.

Wir haben, oder Mutter hat uns, gebadet. Gegessen. Jetzt werden wir unsere Hausbesitzer besuchen.

Wir gehen jetzt in das Zimmer von meinen Eltern.

Dort steht der prächtige Kleiderkasten von dem armenischen Möbelmacher.

Das ist wirklich Ehrfurcht erregend. Er ist größer als mein Vater: Auf der linken Tür ist von oben bis unten ein Spiegel, worauf wir die ganze Welt verkehrt sehen können. Auf der rechten Seite ist die Furnierung. Das ist eine sehr dünn geschnittene Scheibe aus einem ganzen Baum. Wenn ich näher gehe, sehe ich die ganze Holzstruktur. Wenn ich aber zurück gehe, sehe ich plötzlich einen Frauenkörper. Hals, Busen, Hüften, Schenkel... Nur der Kopf fehlt und auch die Füsse. Ist das eine Absicht des Möbeltischlers? Was bedeutet das?

Wie wir in Suadiye wohnten, besorgte meine Mutter durch ihre Nachbarinnen Bücher aus Deutschland. Sie heißen "Burda". Sie hält die alten Zeitungen von meinem Vater neben der Burda, macht mit einem Bleistift darauf Zeichnungen und schneidet sie.

Danach beginnen die langen Diskussionen mit meinem Vater. Zum Schluß sagt er: "Frau, du wirst mich an den Bettelstab bringen". Das bedeutet, dass mein Vater morgen Abend ein paar Meter Stoff nach Hause bringt.

Dann setzt sie sich an ihre Singer-Maschine, wofür mein Vater noch immer jeden Monat die Rate zahlen muss, und näht neue Kleider für sich und für mich.

Meine Mutter zieht ihr schönstes und neuestes Kleid an. Sie zieht die Säume an ihrem Rock herum und beobachtet sich. Auch ich beobachte sie. Sie ist wunderschön. Sie macht ihre Haare auf. Kämmt sie sorgfältig. Bindet sie wieder mit schwarzen Haarspangen. Sie holt einen kleinen Sack, nimmt einen Lippenstift heraus und beginnt sich zu schminken.

Sie hat mir erzählt, dass die Leute immer bahaupten, dass die frische Braut, gemeint ist sie, Schwindsucht hat. Weil sie so blass ist. Schwindsucht ist TBC. TBC hat eine Schwester von ihr. Aber sie nicht. Sie holt eine winzige kleine Schachtel und einen kleinen breiten Pinsel aus ihrem Sack. Sie malt ihre Wangen rot.

Jetzt tänzelt sie vor dem Spiegel und wackelt mit ihrem Hintern. Meine Mutter ist wirklich sehr schön.

"Bist du endlich fertig?", fragt mein Vater und dann stellt er sich selbst vor den Spiegel. Erst das Manschettenhemd. Die Manschetten werden mühsam verschlossen. Dann die Hose. Dann wird die Krawatte mit lauter Zauberhandgriffen gebunden.

Mein Vater schaut aus wie ein Platanenbaum. Er ist furchterregend, und zugleich bietet er Schutz gegen allerlei unberechenbare Gefahren.

Ich warte, ob er sich schminken wird. Das tut er nicht. Aber er streift seine mächtigen Augenbrauen hinauf. Jetzt strahlt er für mich eine unschlagbare Macht aus.

Dann werde ich ordentlich hergerichtet. Meine Mutter bemüht sich sehr und ich werde immer unruhiger.

Da sind zwei alte Männer, die vom Gott meiner Mutter bestraft sind und einen Buben in meinem Alter bestrafen. Sie laden uns ein. Werden sie auch mich bestrafen?

Warum putzen wir uns auf wie bisher sehr selten? Das ist sicher ein Spiel für die Erwachsenen.

Wenn ich einen Spielkameraden hätte, würde ich hunderte Spiele erfinden. Die Spiele der Erwachsenen finde ich langweilig und nicht lustig.

Wir gehen durch den Rosengarten. Beide Herren kommen herunter und begleiten uns hinauf. Der rechte Flügel von der schweren braunen Holztür ist offen. Drinnen ist es noch dunkler als in unserer Bruchbude. Alles, aber alles sehr dunkel. Ich reibe meine Augen.

Am Boden liegt ein dicker Teppich. Dunkelrot. Darauf ist ein Tisch wie bei Schemsi Bey.

Wahrscheinlich haben sie den von ihm gekauft. Rundherum gepolsterte Sesseln wie bei Schemsi Bey.

Wir sitzen alle rundherum um den Tisch. Begrüßungen, Zeremonien, Zeremonien... Das sind die unergründbaren Spiele der Erwachsenen.

Dann ruft Raschid Bey an:

"Reha! Komm her!".

Stille. Es dauert einige Minuten, bis aus der hinteren Tür ein Bub erscheint. Er ist so dünn wie ich. Haut und Knochen. Aber noch blasser als ich.

"Komm weiter, begrüß die Gäste!"

Reha kommt zögernd zu uns. Küsst die Hand von meinem Vater, dann von meiner Mutter, dann kommt er zu mir. Steckt seinen Zeigefinger in meine Hand und schaut mir in die Augen. Ich schaue ihn mit voller Liebe bis Sehnsucht an. Ich umarme ihn mit meinen Augen. Er zittert am ganzen Körper.

"So... Jetzt kannst du wieder zurücktreten!".

Reha geht mit langsamen Schritten zurück bis zur Hintertür. Dann dreht er sich um und läuft weg.
Stille.

Reha ist ganz lieb. Er könnte mein Spielkamerad sein.

Ich schaue meine Mutter fragend an. Sie kennt meinen fragenden Blick. Sie hebt die Augenbrauen hoch. Das heißt nein.

Ich möchte schreien. Und schreien und schreien. Ich schaue vor mich hin und schweige.

Ich habe Reha nie mehr gesehen. Hin und da musste ich wieder ins Bett gehen, weil er gepeitscht wurde.

Wenn er einmal in die Schule geht, musste er in die selbe Schule gehen wie ich. Auch später, in der Schule habe ich ihn nie gesehen.

Fahri Bey serviert den obligatorischen Schwarztee. Dazu gibts Biskuitten.

Dann beginnt der Raschid Bey zu erzählen. Fahri Bey nickt immer wieder. Meine Mutter schweigt und hört zu. Manchmal läuft ein Schatten über ihr Gesicht von oben bis unten, sowie wenn eine düstere Wolke über ihr vorbei fliegt. Dann bewegt sie ein bißchen ihre Schultern, und ihr trauriges Gesicht kommt wieder ohne Schatten zurück.

Wenn mein Vater manchen bestimmten Erwachsenen begrüßt, lächelt er eindeutig. Aber auch sonst lächelt er immer. Das ist aber ein sehr, sehr kleines Lächeln. Wenn er so klein lächelt, ist er traurig? Oder amüsiert er sich? Oder lacht er sein Gegenüber aus? Vielleicht lacht er die ganze Welt und sich selbst aus und ist darüber sehr traurig?

Raschid Bey war der Kommissar von dem Polizeirevier in Erenköy. Fahri Bey war sein Vize.
"Wie die Republik gegründet wurde, hängten wir an jeden zweiten Baum einen Mann. Damals war Ordnung hier. Heutzutage darf man sogar wählen, wer der neue Herrscher sein soll. Wohin führt das?".

Ich kann nicht mehr allem folgen und muss mich zwingen auf dem Sessel, wo man mich darauf setzte, ruhig zu bleiben.

Auf dem Gesicht von meiner Mutter sehe ich, dass sie genauso ungeduldig wurde wie ich. Auf dem Gesicht von meinem Vater sieht man nichts. Ausser seine Lippen. Sie werden hin und da ein klein bißchen breiter und schmäler .

Knapp bevor ich einschlief, wurde ich wieder voll munter: Es geht um die Kinder:

"Natürlich tut der Staat sehr viel für die Waisenkinder. Zehntausende heidnische Kinder werden in den Internaten erzogen und werden anständige Türken und Muslime. Aber alle Waisenkinder kann der Staat sicher nicht versorgen. Die Restlichen bleiben auf der Straße."

"In den letzten Jahren vor der Pensionierung war unsere Hauptbeschäftigung die Waisenkinder. Wir führten über sie genaue Karteien. Wir haben ganz sorgfältig Karteien über hunderte von Kindern hergestellt. Ihre Namen, die Orte wo sie sich verstecken und wenn nötig wo man sie finden könnte."

"Wir machten mit großer Mühe Abdrucke von ihren winzig kleinen Fingern. Wenn ein Bürger kam und eine Verlustanzeige machte, waren zuerst diese Kinder dran. Manchmal bekamen wir auch Anzeigen über Hauseinbrüche. Ja, sowas machten auch diese Bastarde. In jedem Polizeirevier hängt eine Falaka(=Bastonade)-Vorrichtung sichtbar an der Wand. Wir zogen die Kinder aus und hängten sie Kopf hinunter, Füße hinauf an diese Vorrichtung. Dann fingen wir an, ihre blossen Füße mit dem Gehstock zu schlagen."

Fahri Bey nickt. Meiner Mutter schrumpft ihr Gesicht. Mein Vater rührt sich nicht.

"Sie schrien, jammerten, flehten uns an. Das hörte sich wie das Vogelgezwitscher an. Nach einer Weile bekamen sie große Wasserblasen an den Sohlen. Dann brachten wir einen Bottich mit Salzwasser und stellten die Kinder hinein. Wir schütteten immer wieder mit einem Kübel kaltes Wasser auf ihre Köpfe, damit sie nicht ohnmächtig wurden."

"Was ist das?", frage ich und zeige mit meinem Finger auf eine kleine Holzschachtel auf dem Tisch.

Meine Mutter atmet auf. Mein Vater sagt:

"Wenn die Erwachsenen sprechen, darfst du sie nicht unterbrechen!".

"Es macht ja nichts!", sagt Raschid Bey verlegen. "Das ist ein Zigarettenautomat." Er nimmt die Schachtel in seine Hand und macht sie auf. Unter dem Deckel ist noch ein Deckel. Daraus steigt eine einzelne Zigarette heraus.

"Raucht jemand hier?".

Niemand raucht.

"Was ist darunter?", frage ich bestimmend.

Fahri Bey steht auf und bringt einen Schraubenzieher. Raschid Bey montiert den Deckel auf. Darunter sind eine Reihe von Zigaretten. Eine Scharniere, ein Holzhebel, eine Stahlfeder... Jetzt weiss ich, wie das funknioniert.

"Wer hat das gemacht?", frage ich.

"Ich!", sagt Raschid Bey.

"Gut gemacht. Aber unnütz!", sage ich und rutsche langsam von meinem Sessel hinunter.

Stille. Alle schauen mich an. Ich drehe mich um. Ich spüre die Blicke der Erwachsenen auf meinen Schultern.

Ich gehe langsam. Sicher erwarten alle, dass ich durch die Hintertür gehe und Reha suche.

Ich gehe aber an die rechte Wand. Ich folge einem Geruch. An der Wand hängen Bilder, die wie mein Pferd riechen.

Auch mein Vater machte Bilder. Ihm schenkte die Maritim-Bank jedes Jahr einen Kalender aus der Schweiz. Da war für jedes Monat ein Bild. Sie zeigten Holzhäuser hinter einem See oder Holzhäuser auf der Alm, halb in Schnee versunken.

Mein Vater kaufte Glasplatten. Legte die Bilder einzeln auf diese Platten. Für die hintere Seite schneidete er mit der Schere mühsam eine Pappe. Dann umrahmte er das ganze sehr sorgfaltig mit blauen Klebebändern. Mit diesen Bändern flickte er auch die defekten Stromkabel. Dann wurden die Bilder an die Wand gehängt.

Mein Vater glaubte, in der Scweiz war die Zivilisation zu Hause. Eines Tages wollte er dorhin gehen und uns alle nachholen. Er hat die Schweiz nie gesehen.

Die Bilder von meinem Vater riechen nach nichts. Diese aber riechen wie mein Pferd. Ich gehe näher. Die beiden Bilder sind ähnlich. Stellen einen Wald wie in der Schweiz dar. Davor gibts aber keinen See, sondern einen Bach. Neben dem Bach ist ein Jäger. Neben ihm ist ein Hund.

Ich strecke meine Hand hoch und berühre ein Bild. Mein Vater sagt:

"Du darfst die Bilder nicht berühren!".

Meine Fingerspitzen sagen, dass die Bildoberflächen nicht eben sind.

"Was ist das?", frage ich.

"Ein Ölgemälde!", sagt Raschid Bey.

"Wer macht das?"

"Ich!", sagt Raschid Bey.

Seit ich fünf Jahre alt bin, weiss mein Vater, dass ich Maschinenbauingenieur werde. Ich weiss es aber noch nicht.

Vielleicht werde ich ein Zollbeamter wie mein Vater. Polizist werde ich sicher nicht.

Vielleicht werde ich ein Einbrecher. Dann werde ich hier einbrechen und Reha befreien.

 

 

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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016