Die Übersiedlung

Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
DIE ÜBERSIEDLUNG
 
12. 11. 2017, Sigmundsherberg
 

 

War mein Vater ein guter Vater?

Ein guter Familienvater war er auf jeden Fall. Er dachte an alles. Und er machte alles richtig.

Die Erwachsenen schreiben das Jahr 1954. Ich werde bald sieben. Wir wohnen im Ort Kazasker. Die nächste Volksschule ist in Erenköy. Zu Fuss von unserem Haus mindestens eine Stunde. So hat mein Vater nach einer langen Suche ein Mietshaus gefunden, das nur eine halbe Stunde von der Schule entfernt ist.

Draussen auf der Straße wartet bereits der Pferdewagen. "Schon wieder wie die Zigeuner!" sagt meine Mutter.

Unser bisheriges Mietshaus ist ein zwei stöckiges Holzhaus. Das Haus schaut so aus, als wäre es eine lange Zeit von einer Herde von gnadenlosen Nagetieren angeknabbert worden.

Durch einen ziemlich verwilderten lang gezogenen Garten kommen wir auf die Straße. Vorne im Gespann steht ein unterernährtes Pferd. Ich stelle fest, dass ich ihm völlig egal bin.

Der Pferdewagen ist ziemlich flach. Den Holzkasten kann ich mit meinem Kinn berühren.

Also beginnen wir mit hin und her rennen, um unsere Habseligkeiten vom Haus in den Wagen zu tragen. Zum Schluss werden die Bettdecken auf dem Boden ausgebreitet. Meine Mutter sitzt darauf. Mein Vater hebt mich hinauf und setzt mich neben meine Mutter. Dann nimmt er vorne neben dem Fuhrmann Platz. Jetzt kann die gemächliche Reise auf der Asphaltstraße beginnen.

Hier fahren auch andere Pferdewagen. Und voll aufgeladene Esel. Aber auch Busse. Aber auch Autos.

Nein, ich bin nicht traurig darüber, dass wir unser Haus verlassen. Im Gegenteil: Ich bin ganz neugierig auf die neue Welt.

Ich spielte jeden Tag im Garten. Da waren aber keine Kinder zum mitspielen. Ausserhalb vom Gartentor war ich fast nie.

Ich sehe jetzt die noch nie davor gesehenen Gärten, Häuser, hin und da auch Kinder. Jetzt stellen sie sich vor mir zur Schau. Waren sie immer da?

Ich halte die Schnur ganz fest, an der unsere Töpfe, Pfannen und Teekannen hängen. Und entdecke gleichzeitig die geheimnissvolle Terra incognita. Und gleichzeitig halte ich Ausschau nach Lulu.

Meine erste Freundin war (und ist noch) meine Mutter. Die zweite war die Lulu. Lulu ist meine erste Geliebte, die mich verlassen hat.

Sie war eine schlanke, gelbe Katze, die in meinem Bett schlief und mit mir kuschelte.

Eines Tages wachte ich auf und sie war nicht mehr da. Das war das Ende der Welt.

Selbstverständlich liebte auch Lulu mich. Wir waren von einander abhängig. Wie konnte sie mich verlassen? Ich aß monatelang nicht und weinte nur. Nach zwei Jahren habe ich nicht mehr viel Hoffnung, ihr wieder zu begegnen. Aber aufmerksam nach ihr Ausschau halten ist meine Mindestpflicht gegenüber Lulu.

Die Asphaltstraße geht weiter. Ich möchte gerne weiter fahren und sehen wie lang die Welt ist. Aber wir biegen nach links.

Eine plötzlich aufsteigende Staubwolke schluckt uns. Es dauert eine Weile, bis wir wieder sehen. Es ist eine Straße aus gelben Lehm.

Rechts von uns sind eine Reihe von kleinen Gärten und hinter jedem Garten steht ein kleines Haus. Links ist so weit das Auge sieht Brachland.

Nach einigen Häusern, sie sind nicht viele, vielleicht zehn Stück, kommen wir zu einem Gartentor.
"Wir sind da!" sagt mein Vater. Mich holt er herunter. Während er den Fuhrmann bezahlt, schaue ich mir alles an.

Auf einer niedrigen Betonmauer ist ein hoher Zaun aus Maschendraht angebracht. Dahinter sind Rosen. Jede Menge große Rosen. Gelbe, rosa, weisse, rote. So viele Rosen habe ich noch nie gesehen.

Hinter den Rosen ist ein Haus. Zwei Stockwerke. In der Mitte breite Treppen. Dahinter eine Terrasse.
So groß, so mächtig. Es ist ein Neubau. Und vor allem die Farbe: Helles Pink.

Das Dach mit den neuen, knallroten Dachziegeln neigt sich bedrohend herunter.
Ist das unsere neue Bleibe? Wir drei alle zusammen sind zu klein für dieses Haus. Wir gehen drinnen verloren.

Was ist, wenn ich drinnen meine Mutter verliere?

 

 
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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016