Der Traum

Volksschule "Zihni Pascha"

 
Roman
 
DER TRAUM
 
Sigmundsherberg, 10. 11. 2017

 

Schon wieder habe ich vergessen, dass ich nur ein Bein habe. Seit der Amputation ist bereits ein halbes Jahr vergangen. Aber immer wieder vergesse ich das. Vielleicht will ich nicht wahr haben, dass ich halbiert bin. Und so bringe ich mich immer wieder in unmögliche Situationen, aus denen mich unbeteiligte Menschen retten müssen.

Dieses mal sitze ich auf einem Dach. Rundherum um mich einige Haufen von Dachziegeln. Anscheinend habe ich sie durchgewühlt. So ist das Dach nicht mehr regendicht. Ich muss sie wieder in Ordnung bringen.

Verlorene Liebesmühe. Mit einem Bein schaffe ich es niemals.

Und ich kenne diese Dachziegeln. Es sind neue Ziegeln. Es sind die Ziegeln, die man vom Lagerhaus in Niederösterreich bekommt.

Ich bin aber jetzt in Istanbul. Genauer gesagt in der Ortschaft Erenköy, noch genauer gesagt, ganz genau gegenüber der Volksschule "Zihni Pascha", wo ich in die Schule gegangen bin.

Vor mir sollte die "Telli Kavak Caddesi" (=Geschmückte Pappel Gasse) liegen. Sie ist aber tief unten und unsichtbar. In meiner Höhe und gleich gegenüber mir steht der Erker auf dem zweiten und höchsten Stock der Schule. Normaler Weise sollte ich jetzt durch das Fenster den Rücken von "Müdür Bey" (=Herr Direktor) sehen. Vor ihm sollte das grosse "Schrifthaus", so nannte man damals die Schreibtische, und davor sollten zwei gewöhnliche Sesseln stehen. Von dort kommt man auf einem roten Teppich zu der Tür. Und die Tür öffnet sich zum zweiten Stock von der Schule.

Ich sehe aber gar nichts. Das Fenster ist mit Holzbrettern vernagelt. Rundherum ist der Putz zerbröckelt. Links von dem Erker, ein bisschen hinten stehend, ist ein Klassenzimmer. Auch das hat ein Riesenfenster nach aussen, von welchem die Schüler nicht hinaus schauen dürfen. Auch dieses Fenster ist mit Holzbrettern vernagelt. Auch hier rundherum zerbröckelt der Putz.

Links von der Schule läuft die "Istasyon Caddesi" (=Bahnhof Straße). Rechts von der Schule ist eine kleine Gasse. Auf der rechten Seite ist eine hohe Mauer. Dahinter ist die "Zihni Pascha Moschee". Eine richtige Ruine ist die Moschee nicht, eingestürzt ist sie auch nicht, aber auch dort zerbröckelt der Putz.

Und dort sollte eine "Schadirwan" (=Brunnenskulptur) aus Marmor sein, woraus aus acht Schnäbeln Wasser heraus quellt. Rund herum sollten die gläubigen Muslimmänner stehen, die ihre rituellen Waschungen durchführen. Die Männer, die auf ihren "Takunya" (=Holzschlapfen) herum gehen und mich mit ihren ausgewucherten Hornhaut - Füssen und mit den aus dem Leibchen herunter hängenden Wampen an meine Nachbarn am niederösterreichischen Land im Sommer erinnern. Jetzt ist aber keiner von ihnen da, dass ich "Hilfe" rufen könnte.

Ich sitze auf der Höhe vom zweiten Stock der Schule. Also höchstens fünfzehn bis zwanzig Meter von der Straße erhöht. Nicht sehr hoch. Wenn ich zwei Beine hätte...

Ich weiss es nicht, wie ich hierher gekommen bin, aber hinunter schaffe ich es sicher nicht.

Es regnet nicht. Es schneit nicht. Aber es ist Winter. Es ist kalt. Bald kommt der Abend...


Ich möchte nicht, dass die freiwillige Feuerwehr von Sigmunsdsherberg in Einsatz kommt. Dann werden alle wissen, dass der verhasste Ausländer, der die seit Franz Josef nicht gestörte Totenstille des Ortes mit einem Kulturzentrum zerstören wollte, wieder aktiv ist. Sie haben sich mit vereinigten Kräften redlich bemüht, mich umzubringen, oder wenigstens zu vertreiben. Jetzt haben sie gehört, dass ich im Spital bin und die Chirurgen aus mir Gulasch machen.

Der Ruf des Tarzan weckt mich auf. Mein Beinstumpf bekommt wieder Krämpfe. Ich liege im Bett.
Ich bin in meinem ewigen Gefängnis. Ich kann ohne Hilfe nicht hinaus. Und ich lebe allein. Ich bin verwirrt. War das "nur ein Traum"? Wo bin ich? Hat es jemals eine Volksschule namens "Zihni Pascha" gegeben? Wie kam ich dorthin?

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start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016