Der Schuhputzer

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
DER SCHUHPUTZER
 
Sigmundsherberg, 28. 08. 2019
 

 

Es wird langsam ernst.

Ich werde bald in die Schule gehen. Dort werden sie mir zeigen, wie ich Maschinenbauingenieur werde. Und wenn ich Maschinenbauingenieur geworden bin, wird der Geldgeber mir viel Geld geben.

Ich werde meinem Vater einen neuen Anzug kaufen und wir werden eine Putzfrau anstellen. Dann muss meine Mutter nicht mehr…

Aber was ist mit mir? Ich habe Angst. In der Schule gibt es viele Kinder. Ich weiß aber nicht, wie man mit fremden Kindern spricht. Vielleicht sind sie sehr lieb und werden meine Spielkameraden sein. Aber was ist, wenn sie mich verprügeln?

Und die Erwachsenen? Da gibt's Lehrer. Was machen sie? Werden sie mich schlagen? Wie hart?
Es ist wirklich sehr ernst. Sogar mein Vater nimmt sich von der Arbeit frei, um mich für die Schule vorzubereiten.

Wir sind in aller Früh unterwegs. Wir gehen zur Schule.

Wir gehen entlang der Kayisdagi Straße. Schnelle Schritte. Ich versuche Schritt zu halten. Wir sprechen nicht. Auf der linken Seite sind einige Holzschlösser mit Tannenwäldern. Dann immer wieder Brachland. Wir gehen entschlossen weiter.

Die Kayisdagi Straße ist am Ende. Kreuzung. Links unten sehen wir die Schule. Wir halten an. Wir halten inne. Mein Vater sagt nichts. Ich sage nichts.

Die Schule ist noch größer als das Haus unserer Hausbesitzer. Ich habe Angst.

Links von der Schule geht die Bahnhofstraße hinunter. Wir gehen jetzt dort weiter.

Links und rechts sind große Häuser. Vielleicht drei, sogar vielleicht vier Stockwerke. Ebenerdig sind immer Geschäfte. Aber sehr wenige Menschen sind auf der Straße. Und überhaupt keine Kinder außer mir.

Diese Straße ist nicht sehr lang. Am Ende kommen wir zu einer breiten Straße, die nach rechts und links geht. Da hinter ist der Bahnhof von Erenköy, aber die Rückseite.

Auch der Bahnhof ist sehr groß.

Wir biegen nach rechts. Der Bahnhof bleibt auf der linken Seite.

Wir gehen zur gegenüberliegenden Seite und stehen vor dem Bahnhof. Halten an.

Ein bisschen entfernt von uns sitzt ein Kind auf dem Gehsteig. Er hält mit beiden Händen eine Holzstange vor sich hin. Darauf sind viele Sesamringe gesteckt.

Er hat uns gesehen. Steht sofort auf. Macht zwei Schritte zu uns. Hebt die Stange hoch. Wir winken nicht. Er sitzt wieder.

Mein Vater macht seine Geldbörse auf. Sie ist aus Leder und hat eine Form wie ein Hufeisen. Er klappt den Deckel auf. Nimmt eine rote Münze heraus. Die Münze hat ein Loch in der Mitte.

"Das sind 100 Para".

Osmanische Währung. Jetzt gibt es Kurusch. 100 Para sind 25 Kurusch wert.

"Ein Simit (=Sesamring) kostet 100 Para. Wen du einmal ein Simit kaufst, musst du 100 Para geben."

"Vater! Wer verkauft die Simits, wenn er in die Schule geht?".

"Er geht nie in die Schule. Er verkauft jeden Tag Simits".

Ich frage nichts mehr. Aber denke viel…

Wir schauen gegenüber. Vor uns gehen die großen Häuser weiter nach links bis zur Ethem Efendi Straße. Nach rechts beginnt ein Tannenwald.

Hinter der Straße, gleich am Anfang ist ein sehr großes Haus. Der Eingang ist auf der Bahnhof Straße. Gegenüber dem Bahnhof sind nur große, vergitterte Fenster.

Unter dem Fenster um die Ecke sitzt ein alter Mann auf dem Gehsteig. Ohne Bewegung. Wie eine Skulptur.

"Siehst du den Mann?", fragt mein Vater.

"Ja!"

"Er ist der Schuhputzer. Wenn du ihm begegnest, musst du großen Respekt erweisen. Er ist schwer behindert. Er hat keine Beine. Trotzdem verdient er sein Brot selbst, durch seine sehr harte Arbeit."

Sein "Schuhputzer" ist zuhause meine Mutter. Ich dachte, alle Mütter tun das. Mich wundert es, dass es auf der Welt einen extra Schuhputzer gibt.

Wir gehen zu ihm.

Vor ihm liegt eine große, längliche Holzkiste. Fast so groß wie ich. An der vorderen Seite ist ein Spiegel montiert. Rechts und links sind kleine Schachteln. Drinnen stehen mehrere längliche Glasdosen mit Farben. Die Deckel der Glasdosen haben Dachgewölbe wie die Moscheen und einen Schnitt auf einer Seite. Daraus stehen die Griffe der kleinen Löffel. Ganz außen haben die Schachteln mehrere Ringhacken. Darauf hängen große, lange Schuhbürsten.

Oben, in Mitten der Kiste steht ein Holzgestell hinauf. Schaut aus wie ein Fuß, am Knöchel abgeschnitten und auf den Kopf gestellt.

Der Mann hat ein sechskantiges Bauernkaskett auf seinem Kopf. Sein Gesicht ist von der Sonne sehr dunkel gefärbt. Seine Haut schaut wie Leder aus und hat viele, viele tiefe Falten. Und er hat sehr dicke Arme, und die Arme sind voller Muskeln.

Er sitzt in einer runden Hülle aus dickem Leder auf dem Gehsteig. Er hat keine Beine. Nur ein Oberkörper. Ich bin größer als er.

Neben ihm an seinen beiden Seiten liegen Holzsandalen. Später habe ich gesehen, dass er diese Sandalen an seine Hände anzieht und auf den Händen sich sehr schnell bewegt.


Foto: "Der alte Schuhputzer", gefunden im Internet. Quelle: Unbekannt
 

 

Nur, wie er diese schwere Kiste hierher und wieder zurückbringt, habe ich nie gesehen.

"Sei gegrüßt", sagt mein Vater.

"Sei gegrüßt, Bey!" sagt der Mann.

Manche Erwachsenen heißen "Efendi". Mein Vater ist ein "Bey". Bey ist etwas höher als "Efendi".

"Bitte!".

Mein Vater stellt seinen rechten Fuß auf das herausragende Holzgestell. Der Schuhputzer nimmt mit einem kleinen, flachen Speziallöffel ein bisschen schwarze Farbe von einer Glas-Dose. Er gibt die Farbe vorne auf dem Schuh. Er nimmt von einer Schublade auf seiner Seite ein kleines Samt Tuch heraus und verteilt die Farbe auf dem ganzen Schuh. Auch an den Seiten und nach hinten.

Mein Vater nimmt seinen rechten Fuß hinunter und stellt den linken hinauf. Dasselbe Ritual.

Danach kommt wieder der rechte Schuh hinauf.

Dann nimmt er einen schwarzen Streifen aus Samt, legt ihn auf den Schuh, mit beiden Händen drückt er ihn kräftig hinunter und schiebt ihn nach rechts und links. Er macht dass so schnell, dass man seine Hände nicht sieht.

Nachher begann der Schuhputzer, in den beiden Händen je eine Bürste, zu bürsten. Statt seine Hände und Bürsten sehe ich nur eine Wolke auf dem Schuh.

Jetzt steht mein Vater auf beiden Füßen vor der Kiste und betrachtet seine Schuhe auf dem Spiegel.
Ich glaube, es springen Funken aus den Schuhen.

Mein Vater bedankt sich, der Schuhputzer wünscht, dass der Gott das Verdienst meines Vaters vermehrt.

"Im Winter kaufe ich für dich Lederschuhe. Wenn sie einmal schmutzig werden sollen, kannst du zu ihm kommen. Einmal Schuhputzen kostet 50 Kurusch. Nicht mehr, nicht weniger."

Ich konnte damals nicht ahnen, dass ich nach einigen Jahren selbst als Schuhputzer in Istanbul arbeiten werde. Noch unvorstellbarer war für mich damals, dass nach mehr als sechzig Jahren in einem Landeskrankenhaus in Österreich mein linkes Bein amputiert würde.

Jetzt schreibe ich in einem Rollstuhl sitzend das virtuose Schuhputzkonzert des alten Mannes.

"Jetzt gehen wir zum "Berber", sagt mein Vater.

 
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start: 19 august 2019, up-date: 19 august 2019