Die Kariolas sind da

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
DIE KARIOLAS SIND DA
 
Sigmundsherberg, 08. 12. 2017
 

 

Heute ist Sonntag. Heute muss mein Vater nicht zur Arbeit gehen. Es ist möglich, dass ich ihn heute näher kennen lerne.

Zuerst ist aber baden angesagt. Dazu haben wir ein eigenes Möbelstück: Das ist "Lejen". Das ist ein runder Bottich aus Zink. Etwa so hoch wie mein Knie und so breit wie zwei mal ich im ganzen.

Wir gehen alle hinaus zu dem Messinghahn. Alle Töpfe sind im Einsatz. Nach einer Weile ist der Lejen halbvoll. Wir machen auch den Küp ganz voll.

Jetzt ist meine Mutter an der Reihe. Sie stellt einen größeren Topf auf den "Gasherd". Der Topf ist zwei mal so breit wie das Gestell auf dem Gasherd. Sie muss den Topf haargenau balanzieren. Sonst gibt es einen Unfall.

Jetzt zündet sie den Gasherd an und kommt heraus.

Gestern ist mein Vater nicht mit einem Fuhrmann, sondern mit einem Chauffeur nach Hause gekommen. Der Kastenwagen stieg auf einen sogenannten "Wagendampfer" und kam über das Meer von Istanbul zu uns. Mein Vater und der Chauffeur trugen die Bestandteile der "Kariolas" ins Haus.

Es sind nicht nur Kariolas. Es sind noch einige Sachen dabei. Jetzt steht unter dem Jasminbaum ein klappbarer Holztisch. Rundherum sind vier griechische Sesseln, so mit geflochtenem Schilf auf den Sitzplätzen.

Das Wasser ist gekocht. Meine Mutter giesst es in den Bottich. Holt noch einmal kaltes Wasser und setzt den Topf wieder auf den Gasherd.

Mein Vater sitzt auf einem der neuen Sessel und liest seine Zeitung. Ich sitze auf meinem Pferd und beobachte ihn.

Meine Mutter holt noch einmal Wassser und geht ins Haus. Jetzt geht auch mein Vater ins Haus.

Meine Mutter wird ihn waschen. Ich bleibe draussen.

Nach einer Weile kommt mein Vater heraus. "Wenn jemand aus dem Bad kommt, sagt man ´Es soll Gesundheit bringen!`", sagt mein Vater.

"Es soll Gesundheit bringen!", sage ich.

"Danke!"

Er liest seine Zeitung weiter.

Meine Mutter holt das Abwasser mit einem Schöpfer raus, füllt es in einen Topf und schüttet den Topf wieder in das Loch im Klo aus. Sie trägt jetzt den Bottich hinaus. Wäscht ihn unter dem Messinghahn. Jetzt tragen wir wieder Wasser ins Haus. Danach fängt meine Mutter wieder an, Wasser zu kochen.

Jetzt ist meine Mutter an der Reihe. Jetzt wäscht sie sich selbst. Mein Vater löst das Kreuzworträtsel.

Meine Mutter ist fertig. Wir wünschen ihr Gesundheit. Sie bedankt sich und beginnt das ganze Ritual von vorne.

Ich sitze in mitten vom Bottich auf einem kleinen Holzschemel. Meine Mutter steht hinter mir. Bekleidet mit einem Nachthemd. Das Nachthemd ist ganz nass und vom Saum rinnt das Wasser herunter. Sie wäscht mich. Ich mache meine Augen ganz fest zu. Meine Augen sind sehr empfindlich. Wenn ich meine Augen zu mache, sehe ich nichts. Wenn ich nichts sehe, habe ich Angst.

Wenn die Sonne sehr heiss ist, halte ich meinen Kopf unter den Messinghahn. Das habe ich gerne.

Aber gewaschen werden ist lästig. Meine Mutter reibt mich überall. Ich will schreien. Bleibe aber ruhig. Ich merke, dass meine Mutter völlig erschöpft ist. Ich muss ihr dankbar sein.

Jetzt sitzen wir alle unter dem Jasminbaum auf unseren neuen Sesseln. Meine Mutter serviert schwarzen Tee und mit Margarine "Sana" bestrichene Brotscheiben und Marmelade. Sie ist erschöpft, als ob sie sehr lange gelaufen wäre.

"Jetzt bauen wir die Kariolas auf", sagt mein Vater.

1923 fand zwischen Griechenland und der Türkei ein "Völkeraustausch" statt. Ausgetauscht wurden in Wirklichkeit Angehörige der griechisch-ortodoxen Kirche gegen Muslime. So kommen die Turkmenen vom Karamanlis-Stamm nach Griechenland und Muslime aus allerlei Völkern in die Türkei. Die Zwangsausgesiedelten verlieren alles in der alten Heimat und in der neuen Heimat wartet Elend auf sie.

1930 wurde Konstantiniyye in Istanbul umbenannt. Trotz allem war Istanbul zur meiner Kindheit sehr kosmopolit und vor allem griechisch.

Das Wort "Kariola" ist griechisch. Wenn ich mich nicht irre, heißt "Kariola" heute in Griechenland "Hure" oder ähnliches. Im Istanbul meiner Kindheit hieß Kariola "Bettgestell".

Also besteht ein Kariola vor allem aus zwei dicken Holzbrettern. Das höhere gehört zu der Kopfseite, das niedrigere zu der Fussseite. Diese dicken Bretter haben an der Oberfläche ein Holzquerschnittmuster und glänzen. So lerne ich noch ein Wort: "Kaplama" (=Furnierung).

Diese Bretter haben an der Innenseite unten rechts und links zwei Eisenstücke mit Schlitzen. Meine Mutter stellt die zwei Bretter neben einander auf und schaut auf meinen Vater. Ich schaue ganz neugierig, aber verstehe nicht was das ganze sein soll.

Die Lösung des Rätsels ist der dritte Teil.

Das ist ein länglicher, viereckiger Rahmen aus Gusseisen. Auf den kürzeren Kanten sind Löcher angebracht. Von diesen Löchern beginnend gehen die spiralförmigen Stahlfedern, an den Enden miteinander verknüpft, entlang dem ganzen Rahmen, zu der gegenüber liegenden Kante hinüber.

Dieser Rahmen hat auf allen vier Ecken ein paar Haken. Diese Haken müssen in die Schlitze von den Metallstücken von beiden Holzbrettern gesteckt werden.

Mein Vater hat eine Holzschachtel. Drinnen sind Zauberer Werkzeuge. Die kenne ich bereits. Das sind ein Hammer, ein Beutel voller Nägel, und eine rundköpfige Zange, um die fehlgeschlagenen Nägel wieder raus zu ziehen.

Mein Vater holt den Hammer. Meine Mutter hält die Fussseite des Kariola senkrecht. Mein Vater versucht die Haken von dem Rahmen in die Schlitze des Bretts zu stecken. Er hält eine Seite des Rahmen an das Brett. Die andere Seite liegt am Boden. Die Haken passen nicht in die Schlitze. Mein Vater geht hinaus. Holt einen der Sesseln. Jetzt wird die freie Seite des Rahmen auf den Sessel gestellt. Jetzt passen die Haken in die Schlitze hinein. Mein Vater klopft mit dem Hammer auf den Rahmen. Jetzt ist eine Seite des Kariola fest.

Ich möchte auch helfen. "Halt dich fern!", sagt mein Vater, "Das ist gefährlich!". Ich darf mich niemals nützlich machen.

Jetzt ist das erste Kariola fertig. Das ist ganz breit, so breit, wie zwei Erwachsene darauf neben einander liegen können.

Das zweite Kariola ist schmall. Aber so lang wie zwei mal ich. Damit ich größer werden kann. Das wird in meinem Zimmer aufgebaut.

Jetzt beginnen meine Eltern mit dem Aufbau der Kleiderkästen. Sie sind ganz groß. Einer gehört zu meinen Eltern. Einer gehört mir.

Sie beginnen mit dem Kasten in ihrem Zimmer. Der Aufbau scheint diesmal noch mühsamer zu sein.
Da ich mich sowieso nicht nützlich machen darf, gehe ich wieder hinaus.

 
was bisher geschah?
weiter lesen
 
start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016