Namus

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
NAMUS

 

05. 09. 1971, Samstag
Arbeitsschicht: 08.00 - 16.00 Uhr

Ich entdecke, dass ein Tabakgeschäft bereits um sieben Uhr öffnet. Bevor ich in die Fabrik gehe, gehe ich dorthin. Anscheinend mir bereits bekannte Marken Marlboro und Camel vertrage ich auf Dauer nicht. Ich kaufe verschiedene unbekannte Zigaretten. Smart, Stuyvesant, Parisien.

Meine drei Schulhefte sind vollgefüllt mit den Maschinenplänen. Das vierte Heft ist für Italiano reserviert.

Mit dem Schiffli habe ich schon aufgehört. Schifflis sind viel zu klein für eine längere Betriebszeit. Ich will die Menschheit von dauerhaften Ping-Geräusche befreien. Jetzt arbeite ich an einer komplett neuen Maschine, die ohne Schifflis funktionieren soll. Also kaufe ich fünf neue Schulhefte.

Im Tabakgeschäft gibt's Tageszeitungen. Leider verstehe ich keine einzige Zeile. Türkische Zeitungen gibt's in Lustenau nicht. Österreichische Zeitungen interessieren mich nicht. Wenn ich nicht weiß, was gestern hier war, bin ich auch nicht neugierig darüber, was sich heute abspielt.

Was machen meine Genossen jetzt? Wie weit ist der Widerstand? Ich habe nicht einmal ein Radio, auch wenn ich eines hätte, kann ich nicht Deutsch. Ich habe niemanden, den ich nach Nachrichten aus der Türkei fragen kann.

Nach dem stempeln tue ich eine Stunde lang, was man von mir erwartet.

Heute bin ich besonders nervös. Die ständige Schlaflosigkeit hat meine Nerven bereits ziemlich geschädigt. Der niemals ein bisschen sinkende Geräuschpegel der Halle scheint für mich heute von einer Minute zu der anderen unerträglicher zu werden.

Ich kann bald wahnsinnig werden. "If I had a hammer!"

Nach einer Stunde schalte ich mein persönliches Monster aus. Zumindest die Ping-Folter ist jetzt weg.

Ich mache ein neues Heft auf und beginne zu zeichnen. Bei der neuen Maschine gibt es keine Schiflis, dafür aber große Spulen, wie bei der jetzigen für die Gegenfäden.

Lochkartenstreifen finde ich genial. Das werde ich behalten. Ich zeichne jetzt die bewegenden Balken, aber nicht als Ganzes, sondern im Querschnitt.

Jede einzelne Nadel hat vorne ein Öhr und der Faden, der von der Spule oben herkommt, wird durch das Loch durchgezogen. Die Nadel geht durch das bereits existierende Gewebe oder je nach Stelle durch die Leere durch. Jetzt sticht sie nicht in ein Schiffli, sondern in ein halboffenes Rad. Das Rad dreht sich. Wenn es in einer Position ankommt, hat drinnen der Gegenfaden bereits eine Schlinge gebildet. Wenn die Nadel wieder zurückkommt, haben wir schon einen Knoten und ich kann ruhig weiter rauchen.

Smart schmeckt mir nicht und stinkt so komisch. Vielleicht ist sie nicht stark genug. Ich breche den Filter ab.

Leberkäse-Zeit. Ich mag nicht jeden Tag Leberkäse. Aber sonst gibt es nur Käse-Semmel. Und Manner Waffeln. Ich habe bereits sichtbar abgenommen. Ich bestehe nur mehr aus Haut und Knochen. Das Geld geht zu Ende. Ich muss bei dem Leberkäse bleiben.

Normaler Weise ich sage auf Deutsch und Luigi schreibt Italienisch ins Heft. Dann liest er vor und ich wiederhole, bis ich alles richtig betone.

Langsam geht aber mein Deutsch zu Ende. Luigi kann außer ein paar Wörter nicht Englisch. Was soll ich machen? In Lustenau ein Lexikon zu erwerben ist nicht denkbar.

Ich versuche, Mit Hand- und Fußsprache ihn Fragen zu stellen. Er versteht mich nicht. Er ist sicher nicht blöd. Vielleicht habe ich meine kreative Kraft verloren. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen.

Ich bin heute überhaupt schlecht gelaunt.

Fünfzehn Uhr dreißig. Bald bin ich draußen. Schtefan war den ganzen Tag nicht zu sehen.

Plötzlich steht er neben mir. Er trägt einen riesigen Ball. Es sind mehrere Knäule aus Baumwollfaden. Er drückt sie mit beiden Händen hinauf und bremst oben mit seinem Kinn. Da er sein Kinn nach unten drückt, bleibt sein Mund offen und seine Zunge draußen. So schaut er blöder aus, wie er sonst ist.

Er schmeißt seine Ladung zum Boden und atmet tief.

Ich merke, dass plötzlich alle Maschinen stillstehen und die plötzliche Leere in der Halle bohrt in meine an großen Druck gewöhnte Ohren.

Schtefan betätigt einen Schalter auf der rechten Seite der Maschine, welcher mir bis jetzt nicht aufgefallen ist. Die Maschine hebt sich durch eine Kette langsam hinauf und nach etwa sechzig Zentimeter bleibt sie still. Unter der Maschine ist ein Loch von einem Meter Tiefe.

Schtefan zeigt mir mit seiner Hand, dass ich hinuntersteigen soll. Ich bin ein Meter einundachtzig. Also muss ich mich nur ein bisschen beugen und das ist besonders anstrengend.

Ich schaue die anderen Männer an. Sie haben Gummistiefeln, Handschuhe und eine Art Regenmantel angezogen. Auf dem Kopf haben sie einen Bauhelm.

Am Boden unter der Maschine ist eine schwarze Ölschicht von zwei Finger Höhe. Von der Maschine tropft im Durchfallmodus Scheiße hinunter. Ich habe nicht die Schutzbekleidung wie die anderen Männer. Und vor allem kein Wasser Zuhause.

Ich ziehe mich vollkommen aus bis zur Unterhose. Barfuß steige ich in den Gatsch. Ist diese schwarze Flüssigkeit für die Haut schädlich? Ich weiß es nicht.

Schtefan wirft den Ball von Knäulen auf mich. Ich fange ihn. Die gebückte Haltung ist äußerst unangenehm. Ich fange an, die Maschine zu putzen. Bald bin ich am ganzen Körper übermalt.

Schtefan stellt einen Kübel neben die Maschine. Die Öl getränkten Knäuel schmeiße ich dort hinein. Das Zeug stinkt ziemlich scharf.

Jetzt beginnt die Maschine auf meinen ungeschützten Schädel zu tropfen.

Ich habe inzwischen auch ein Schimpfwort gelernt: Scheiße!

Ich schreie: "Scheiße!" Meine kräftige Bassstimme hallt in dem stillen Saal.

Ist scheiße ein Schimpfwort? Das ist eher eine Situationsbeschreibung. Kann ich mit dem "Scheiße" meinen Gegner treffen, beleidigen, gar verletzen?

Schtefan schaut mich an und beginnt laut zu lachen.

Schtefan lacht mich aus. Ich bin Botschafter der Revolution. Er lacht unsere Revolution aus. Wenn ich nichts dagegen tue, habe ich auch die Ehre meiner Genossen befleckt.

Ich habe entschieden, in diesem neuen Land jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen und nicht auffällig zu werden.

Ich bin im Allgemeinen ein sehr geduldiger Mensch. Aber es gibt Momente, da wird mein Kopf sehr heiß und ich sehe nur rot. Dann bin ich wirklich gefährlich. Ich bin so gefährlich, sogar die Vernunft bekommt Angst vor mir und kommt nicht in meine Nähe.

Jetzt verkörpert Schtefan Kapitalismus, Imperialismus und Faschismus in Person. Ich werde ihn töten!

Da tue ich etwas, was ich sonst nie mache. Ich schreie: "I fuck your wife!"

Schtefan schaut mich ein paar Sekunden verständnislos an und beginnt noch mehr zu lachen.

Meine ausgebildete Bassstimme ist sehr kräftig. Jetzt kommen noch einige Männer zu uns. Schtefan sagt ihnen etwas. Jetzt lachen alle miteinander und es kommen noch ein paar Männer dazu.

Ich fühle mich wie ein aufgehetzter Stier in der Arena.

"I fuck your wife!" ist nicht eine Morddrohung, sondern eine Mordankündigung. Und alle lachen. Ich verstehe die Welt nicht mehr.

Ich erwarte nicht, dass der Schtefan Shakespeare in original liest. Aber so viel englisch wird er verstehen.

Vielleicht hat er keine Frau? Das ist aber vollkommen egal: Ich habe seine Ehre beleidigt.

Die Ehre? Gibt es hier diesen Begriff überhaupt?

Ich schreibe diese Zeilen jetzt, fünfzig Jahre später. In der letzten Zeit füllten öfters die "Ehrenmorde", die Schlagzeilen der Boulevardmedien.

In der türkischen Sprache gibt es kein Wort für die Ehre. In der Türkei benützt man das arabische Wort "Scheref". Das kann man eins zu eins als "Ehre" übersetzen.

Es gibt aber eine Unterkategorie des Begriffes. Auch dafür gibt es kein Wort in Türkisch. Auch dafür verwendet man ein arabisches Wort: "Namus".

"Nomos" nennt man griechisch die Tora, in Bedeutung von Gesetz, Ordnung. Das übernahmen die Araber als "al Namus".

Namus definiert die Ehre der Männer, über sexuelle Fernhaltung der im Besitz der männlichen Familienmitglieder befindlichen Frauen vor den "fremden" Männern.

Wenn Mohammed auf Raubzüge geht, mussten seine Frauen vor Blicken der fremden Männer geschützt werden. Anderseits beschäftigte sich sein "Allah" den ganzen Qor´an entlang mit der Legitimierung seiner sexuellen Ausschweifungen.

Nur, in der Schimpfkultur der Türkei blieb weiterhin der Ehrenbegriff Männersache, aber koppelte sich von der Religion ab.

Die schwerste Ehrenbeleidigung ist dort "Ich ficke deine Mutter und deine Frau".

Ob die Mutter des Gegners noch lebt, oder ob er eine Frau hat, ist vollkommen gleichgültig.

Das bedeutet das gleiche, wie mit dem Fehdehandschuhe ins Gesicht des Gegners zu schlagen. Wenn das in der Öffentlichkeit geschieht, muss der beleidigte sich wehren, auch wenn das ihn das Leben kostet. Ansonsten verliert er seine Ehrbarkeit vor der Gesellschaft und wurde verachtet. Dieser soziale Druck ist derart stark, er kann damit zum Selbstmord getrieben werden.

In dem Vielvölkergefängnis Türkei hat dieses Schimpfformel Ethnien und Religionen übergreifende Gültigkeit. Sogar funktioniert es unabhängig davon, welchen politischen Lager die betreffenden Personen zugehören.

Mein Vater hat mit den Frauen einen respektvollen Umgang angestrebt wie mit den Männern. Er schimpfte niemals auf Kosten der Frauen. Wenn selten einmal meine Mutter ihn mehr provozierte als er aushalten konnte, schrie er: "Ich ficke deine Religion, deinen Glauben, deinen Allah, seinen Propheten und dessen Buch!" So fickte er nur den Ether und beruhigte sich wieder ohne Schuldgefühle.

Ich abstrahierte das Schimpfen weiter und fickte nur die Religion des Kapitalismus, oder Imperialismus oder Faschismus.

Zum ersten und letzten Mal in meinem Leben benütze ich diese Schimpfformel im Originalform, weil ich Schtefan umbringen will.

Und er lacht!

Sind die Menschen nicht überall gleich? Warum reagiert er nicht wie ein Mann in der Türkei? Vielleicht bedeutet diese Schimpfformel hier überhaupt nichts? Vielleicht ist es absurd und unverständlich?

Seine Reaktion bringt mich derart aus der Fassung, dass mein Zorn langsam abklingt und mein Verstand wieder zurückkehrt.

Warum will ich ihn umbringen? Er macht nur das, was er tun muss, um sein Gehalt zu bekommen. Für meine missliche Lage ist nicht er verantwortlich, sondern das faschistische Regime in meinem Geburtsland.

Wenn eine zerbrechliche, nackte, schwarz übermalte Gestalt unter einer riesigen Maschine stöhnt und "Scheiße" schreit, wirkt er sicher komisch.

Ich habe keinen Grund Schtefan zu töten.

So beruhige ich mich langsam wieder und putze weiter die Maschine. Die anderen Männer gehen wieder zurück und Schtefan hört auf zu lachen.

Nach einer Viertel Stunde bin ich fertig. Ich komme wieder heraus und versuche mit den letzten Knäulen meinen eigenen Körper zu putzen.

Schtefan kommt zu mir und reicht mir seine rechte Hand. Ich schüttle sein Hand.

Jetzt, als ein alter und erfahrener Mann kann ich sagen, die Menschen sind doch überall gleich. Aber die Kulturen nicht. Mir fallen vor allem die Unterschiede in der Haltung der Gesellschaft gegenüber Sexualität auf.

Anscheinend hat jede Gesellschaft ihre eigenen moralischen Normen. Wie verhält sich eine Gesellschaft gegenüber Abweichungen? Was wird toleriert, geduldet? Was wird geächtet?

Wo beginnt die gesetzliche Strafbarkeit des Staates?

Wie ich nach Österreich kam, war homosexuell "sein" ein strafbare "Tat". Auch für die heterosexuellen Paare war das Schmusen in der Öffentlichkeit verboten. Dazu war die "Sittenpolizei" zuständig.

Die Normen ändern sich mit der Zeit.

Ende der sechziger Jahre begann eine sexuelle Revolution unter der Parole "Make love, not war".. In den letzten fünfzig Jahren wurde die Hegemonie des Patriarchats und sein moralisches Diktat in der Gesellschaft soweit zurückgedrängt wie in den vorangegangenen zweitausend Jahren noch nie.

Weil die herrschende Meinung unter den Bolschewiki die Frauenfrage zum Sekundärwiderspruch degradierte, hat diese Veränderung nicht wie erwartet in den kommunistischen Staaten stattgefunden, sondern in den kapitalistischen. Aber nur in den sogenannten kapitalistischen Demokratien. Die totalitär regierten kapitalistischen Staaten sind stillgestanden.

Wie gesagt, das schreibe ich jetzt als ein alter Mann, der selbst Zeitgeschichte geworden ist. Ich durfte einige der bedeutenden Persönlichkeiten dieser Entwicklung wie die von mir sehr geschätzte Johanna Dohnal persönlich kennen lernen. Aber hier ist kein Platz, die Geschichte der Emanzipation zu erzählen.

Damals hat mich vieles nur überrascht und sehr verwundert. Obwohl ich mich überall, wo ich hingehe, im Zentrum der sexuellen Revolution befand, merkte ich diese Tatsache viel später, weil ich nicht wusste, wie die Verhältnisse in diesem Land vorher waren.

Auch, ob die Phänomene, die mir begegneten, Einzelfälle, milieuspezifisch oder allgemeingültig waren, konnte ich lange Zeit nicht einstufen.

 

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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017