Das Konzert

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DAS KONZERT

 

Ich stehe auf und gehe gerade aus meinem Zimmer hinaus.

Am Ende des Ganges steht Daphne. Sie sieht mich und lächelt mich an.

"Hi!"

"Hi!"

Wieder barfüßig, wieder im Minirock.

Ihre wohlgeformten Füße, ihre muskulösen Waden wirken auf mich wie die Pfeile von Eros.

Ich sammle meinen ganzen Mut und gehe zu ihr.

Woher kommen ihre Muskeln? Betreibt sie Sport? Was für eine Art? Wann? Wo?

Die Lösung des Rätsels werde ich erst bei meinem Abschied von ihr erfahren.

Hinter ihr ist eine halboffene Tür. Sie macht die Tür ganz auf und sagt:

"Komm herein!"

Damals waren wir beide dreiundzwanzig Jahre jung. Wenn ich ein Pulverfass bin, sie ist eine brennende Fackel. Ich versuche, sie nicht zu berühren. Das ist aber kein leichtes Unterfangen: Denn ihr Körper hat auf meinen eine ähnliche Wirkung wie die eines Magneten auf eine Stecknadel.

Wir sind in einer kleinen Kammer. Das ist nicht ihr Schlafzimmer. Hinten ist noch eine Tür. Hinter dieser Tür ist wahrscheinlich ihr Zimmer.

In dieser Kammer ist aber ein Gegenstand, den ich hier gar nicht erwarte: Ein altes Pianino. Davor steht aber kein Klavierhocker, sondern nur ein Holzsessel.

Wenn wir zuhause ein Pianino hätten, wäre ich jetzt vielleicht ein Pianist. Aber so einen Luxus kann sich kaum ein normal Sterblicher leisten. So etwas wird in der Türkei nicht produziert. Mann muss sie aus Europa importieren. Und der Transport kostet mehr als das Pianino selbst.

Ich habe im Gemeindekonservatorium in Istanbul Schauspiel studiert. Dort war auch ein Musikstudium zuhause. In dem Haus war kein Konzertflügel vorhanden. Nur zwei uralte Pianinos. Und sie waren dauerhaft besetzt.

Aus europäischen Kinofilmen weiß ich, wenn eine Braut aus bürgerlicher Familie eine gute Partie erwischen will, muss sie ein bisschen Fremdsprache sprechen und ein bisschen Klavier spielen. Gilt ein Gasthausbesitzer in Lustenau als bürgerlich?

"Spielst du Piano?", frage ich.

"Keine Zeit zum Üben.", sagt sie. "Der Klavierlehrer ist sehr teuer."

Sie setzt sich auf den Holzsesel, macht den Deckel auf und spielt ein paar Akkorde. Das Pianino ist ziemlich verstimmt.

"Ich weiß.", sagt sie. "In Lustenau gibt's keinen Klavierstimmer. Er kommt von Bregenz und verlangt sehr viel Geld."

Dann singt sie ein Lied und begleitet sich selbst.

In der Volksschule haben wir deutsche Lieder gelernt. Nicht richtig übersetzt, aber mit erfundenen türkischen Texten. Ihr Lied klingt ähnlich. Es ist ein Kinderlied, denke ich.

"Ein Volkslied aus der Schweiz.", sagt sie.

Und "Müsli means mouse."

Sie hat eine wunderbare, sehr geschmeidige Stimme. Und arpeggiert mit einer sehr treffsicheren Intonation. Jetzt bin ich noch mehr verliebt.

"Jetzt bist du dran.", sagt sie.

Ich habe ein bisschen Gesang gelernt. Aber nur ein bisschen. Trotzdem habe ich viel Bühnenerfahrung. Ich habe fast im ganzen Anatolia Tourneen gehabt. Filialen der linken Lehrergewerkschaft luden mich in viele Provinzen ein. Die Natur hat mir eine sehr kräftige Bassstimme geschenkt. Ich singe ohne Mikrofon und Verstärker. Trotzdem kann ich sehr laut werden. Und ich begleite mich selbst mit dem Saz.

Wenn die Lehrer ein paar Gläser Raki trinken und wenn ich die Internationale singe, glauben sie, in der Türkei hat bereits die Revolution stattgefunden und jubeln in Ekstase.

Ich gehe in mein Zimmer und hole mein Saz. Es hängt seit Wochen an einem Kleiderhacken. Ich habe lange Zeit nicht darauf gespielt. Zuerst muss ich es stimmen.

Ich war niemals auf der Bühne so aufgeregt. Meine Hände zittern. Mein ganzer Körper zittert. Ich kann nicht mein Instrument stimmen. Bevor die Seiten springen, gebe ich auf.

Ich singe ohne Begleitung. Nicht die Internationale, sondern eine alevitische Hymne.

"Ich fragte die gelbe Narzisse:
Hast du Mutter und Vater?
Meine Mutter ist die Erde,
mein Vater ist der Regen.
Der Mensch, es gibt keinen anderen Gott".

"Sehr schön! Sehr schön!", sagt sie und applaudiert.

 


Memo genießt den Applaus. Ehrbarsaal, Wien, 1992

 

Damals waren piano und pianissimo nicht meine Stärken. Dazu musste ich noch Jahre lang üben.

Jetzt möchte ich ein Liebeslied singen.

Kaum angefangen, höre ich laute Schritte vom Gang. Die Tür geht auf. Ernst.

Er schreit und stampft mit seinen Füßen.

Ich verstehe nur:
"Aus! Aus!"

Ich starre. Daphne sagt nichts. Aber ich sehe die Tränen, die von ihren Wangen herunter rinnen.
Ernst greift meinen Arm und zerrt mich hinaus. Er zeigt mit seinem Zeigefinger auf meine Tür.

 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017