Luigi ist mein Freund

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
LUIGI IST MEIN FREUND

 

04. 09. 1971, Freitag
Arbeitsschicht: 00.00 - 08.00 Uhr

 


Das schlimmste ist die Nachtschicht. Ich trage die Armbanduhr, welche mein Vater mir vor vielen Jahren geschenkt hat, nach wie vor Tag und Nacht auf meinem linken Handgelenk. Sie funktioniert nach wie vor sehr gut.

Aber eine Armbanduhr ist kein Wecker. Sie dient dazu, dass ich fast jeder Stunde aufwache und auf sie schaue. So bin ich seit ich hier arbeite ständig unausgeschlafen.

Ich arbeite jeden Tag sechzehn Stunden. Ich bin noch jung. Das könnte ich noch verkraften. Aber diese Schlaflosigkeit macht mich kaputt.

Ansonsten beginne ich mich an mein Gefängnis zu gewöhnen.

Heute erscheint der Schtefan die ganze Zeit nicht mehr. Aber eine frisch gefüllte Schiffli-Schachtel ist auf der Holzbank. Hat er das daraufgestellt?

Ich arbeite eine Stunde wie man von mir erwartet, dann schalte ich das Monster aus und zeichne an meiner Erfindung.

Meine Erfindung ist fast fertig gestellt. Jetzt überprüfe ich die Feinheiten.

Zwei Uhr. Es ist Leberkäse Zeit. Ich gehe in die Kantine.

Ich sehe sofort Luigi. War er seit Tagen immer da? Früher ist er mir nicht aufgefallen.

Er lächelt mich wieder so herzhaft an. Seine Augen leuchten wunderschön.

Ich gehe zu ihm. Ich umarme ihn und drücke seinen Körper sehr fest an meinen Körper. Ich küsse seine Wangen.

Er wehrt sich nicht, aber er ist danach ein bisschen errötet. Hat er sich geschämt?

Ich merke, dass einige Männer uns mit missachtenden Seitenblicken beobachten.

In Istanbul, zumindest in der Arbeiterschaft und Studentenschaft, war sehr häufig zu beobachten, dass die Männer sich umarmen und auf die Wangen küssen.

Anscheinend ist das hier nur ein Privileg der Frauen.

In der islamisch osmanischen Gesellschaft war die Homosexualität ein anerkanntes gesellschaftliches Phänomen. Schließlich verspricht der Mohammed allen frommen Muslimmännern neben den Jungfrauen einige männliche Spielgefährten im Himmel.

Erst mit der Erklärung der Republik wurde die Türkei vermeintlich "europäisch" und homophob.
Trotzdem, wenn zwei Männer in der Türkei Hand in Hand herumgehen, erregte das niemandes Aufmerksamkeit.

So konnte ich öfters in mehreren Strandpromenaden meine Freunde genießen.
Wenn du einen Freund hast, nimm ihn an der Hand und gehe mit ihm auf eine der zahlreichen Strandpromenaden in Istanbul.

Promenaden wimmeln nicht von der Polizei, du musst nur unterwegs bis hierher aufpassen, dass du nicht verfolgt bist.

In deiner freien Hand trägst du eine Dopplerflasche Billigrotwein Marke "Mutuk" von Staatsmonopol. Du nimmst davon immer wieder einen Schluck und reichst ihm danach deinem Freund.

Nur, dein Freund muss sich mit dem Gott und der Welt gut auskennen. Sonst kann das Flanieren bald langweilig werden.

Die Hand deines Freundes erwärmt dein Herz. Der Wein erwärmt deinen Verstand. Eine leichte Prise bringt den Duft des Meeres an deine Nase. Euch begleiten die Möwen mit ihr Millionen Jahre altes Gekreische.

Keine Größe eines Reichtums könnte im Stande sein, ein größeres Glück zu bezahlen.

Das war aber einmal.

Inzwischen wurde der Strand zugeschüttet und betoniert. Anstelle der Promenade stehen die leeren Wolkenkratzer und warten auf Touristen, die nicht wissen wollen, was sie hier suchen sollen.

Sogar dass Meer wurde derart vergiftet, dass die Fische drinnen nicht mehr leben können. Die armen Möwen, die sich nicht mehr vom Meer ernähren können, sind ausgewandert.

Jetzt habe ich dafür genug Zeit, aber kann nicht mehr flanieren. Ich sitze seit Jahren auf meinem Rollstuhl und kann nicht einmal aufstehen.

So bleibe ich von Istanbul zwei Flugstunden entfernt in meinem eigenhändig gebauten Gefängnis fest und schreibe meine nie wieder erlebbaren Erinnerungen.

Nach dem Verspeisen der täglichen Leberkässemmel bin ich wieder ein Ping-Ping-Affe.

Dann kommt Luigi.

Ich frage und er schreibt.

Eins?

"uno"

Zwei?

"due"

Drei?

"tre"

Vier?

"quattro"

Fünf?

"cinque"

 

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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017