Lesen und schreiben

 
Volksschule "Zihni Pascha"
 
Roman
 
LESEN UND SCHREIBEN
 
Sigmundsherberg, 28. 10. 2019



Nachmittag.

Wir sitzen wieder im Klassenzimmer.

Wir machen unsere Schultaschen auf. Jetzt liegen eines der Bücher, das gelbe Heft, ein Bleistift, der Radiergummi und der Bleistiftspitzer vor mir.

Die Lehrerin steht vor der schwarzen Tafel.

Sie hält einen Bleistift in ihrer rechten Hand. Sie zeigt uns, wie man das hält. Ich versuche es nach zu machen. Es gelingt mir nicht. Der Bleistift fällt auf den Tisch.

Ich schäme mich. Ich bekomme Angst. Ich hebe ihn schnell auf, zwicke ihn zwischen Zeigefinger und Mittelfinger meiner rechten Hand und halte ihn sehr fest.

Und es blieb bis heute so. Viel später als Grafiker habe ich verschiedene Zeichenwerkzeuge auch so gehalten.

Nach ein paar Wochen entstand ein "Hühnerauge" auf dem Mittelfinger und blieb bis heute.

Die Lehrerin macht mit einer Kreide waagrechte kurze Striche auf der Tafel. Wir sollen das gleiche in unserem Heft zeichnen. Ich schlage das dicke, gelbe Heft auf. Das klappt aber sofort wieder zu. Ich mache es wieder auf und halte es mit der linken Hand fest. Mit der rechten Hand halte ich den Stift sehr fest und berühre das Papier. Es tut sich nichts.

Ich versuche wieder, aber fester. Ich drücke ihn auf das Papier. Jetzt habe ich ein Loch im Heft. Ich versuche den Stift nach rechts zu ziehen. Es geht nicht. Ich versuche noch einmal, kräftiger. Es macht "klick". Die Bleistiftspitze ist abgebrochen.

Ich fange an zu schluchzen. Ich höre die anderen Kinder fleißig zeichnen: "Hurt, hurt, hurt!"

Ich bin ein Versager, eine Schande für meine Eltern.

Die Lehrerin merkt, dass ich weine. Sie kommt zu mir.

Sie duftet. Ihr Duft berauscht mich. Mir ist alles egal. Ich möchte mit ihr kuscheln.

Ich halte ihren Rock fest an und ziehe sie zu mir an. Gleichzeitig mache ich meine Augen zu und warte auf Watschen.

Ich warte.

Die Watschen kommt nicht. Sie drückt mich zu sich und streichelt meinen Kopf. Ich bin wieder glücklich: Ich habe eine neue Kuschelfreundin. Das schreiben ist nicht mehr so wichtig. Ich will, dass dieser Moment nicht mehr zu Ende geht.

Sie lässt meinen Kopf und ich ihren Rock los.

Sie reißt ein paar Seiten vom Heft ab, spitzt meinen Bleistift neu und geht wieder zur Tafel.

"Nicht so fest!" sagt sie.

Ich fange wieder an. Von links nach rechts. Kurze Linien. Bei mir bleiben sie aber nicht waagrecht. Einmal hinauf, einmal hinunter.

Sie geht durch die Reihen und schaut die Hefte an. Kommt auch zu mir:

"Ja, mach so weiter!"

Sie ist wieder an der Tafel. Jetzt macht sie einen Strich, angefangen von oben, schräg nach links unten.

Das ist noch schwerer. Ich schaffe auch das, aber irgendwie. Auch wenn ich den Begriff nicht kenne, stimmt der "Winkel" nicht.

Jetzt geht es von oben nach unten, schräg nach rechts. Auch das üben wir Stunden lang. Ich bin nicht stolz auf mich.

Jetzt kommt der erste Buchstabe: "A"

Meine ersten Versuche sind katastrophal. Aber nach vielen Versuchen schauen meine Zeichnungen endlich wie ein "A" aus.

Sie macht wieder eine Runde. Wie sie zu mir kommt, sagt sie:

"Sehr schön. Aber du musst nicht die ganze Seite mit einem Stück voll machen. Sie macht mir ein "A" auf eine neue Seite.

"Nur so groß. Von links nach rechts. Mehrere neben einander."

A, A, A, A…

Das verdammte "A" neigt sich einmal nach links, einmal nach rechts. Einmal ist das linke Bein länger, einmal das rechte. Stundenlang A, A, A, A, A, A…

Die Höllenglocke läutet.

Schulhof.

Höllenglocke.

Wieder in das Klassenzimmer.

Jetzt fangen wir mit einem "T" (gelesen TE) an. Meine geraden Striche sind schräg. Der Hut ist einmal zu hoch, einmal zu niedrig.

"A und TE nebeneinander lesen wir als AT", sagt die Lehrerin.

Ich lese aber "ATE". Ich verstehe das nicht.

Und ich konnte das niemals verstehen.

Nach einigen Monaten mache ich eine Notiz hinter einem älteren Foto:

 

 

 

NURTEN NEN GÜNEŞ.


Nurten ist der Spitzname meiner Mutter.

"NEN" heißt "mit". Das Osmanische "ila" wurde Neutürkisch "ile". Das Istanbuler Proletariat sagt statt "ile", "nen".

Letztes Wort ist mein Name. "GÜNEŞ". Ich schreibe aber "GÜNŞ".

"N". Diesen Buchstaben liest man Neutürkisch "NE". Also ich spare das "E".

Links vor mir liegt eines meiner zwei Bücher. Aufgeschlagen. Das ist das "Okuma Kitabı" (=Das Lesebuch).

Da ist eine Zeichnung: Ein Pferd ist hier zu sehen. Vor ihm steht ein Bub und wirft dem Pferd ein Bündel Stroh.

Das Wort "AT" kennen wir alle. Das heißt Pferd. Aber auch der Imperativ von "Werfen". "Wirf!" (=AT!)

Dann kommt noch ein "A".

"Das lesen wir ATA", sagt sie.

Ich lese aber ATEA.

ATA heißt "zum Pferd". Das verstehe ich.

Aber das heißt auch "Urvater". Das lerne ich in der Schule. So heißt der Folterknecht, der von der gegenüber liegenden Wand sehr streng auf uns zu schaut: "ATA-TÜRK".

Jetzt zeichnen wir Kreise. Ich zeichne Ovale, Dreiecke, und so weiter, ohne diese Begriffe zu kennen, aber meistens Tropfen.

"Das lesen wir O", sagt sie.

Danach zeichnet sie noch ein T.

"Das lesen wir OT", sagt sie. Ich lese aber OTE.

Ot heißt "Gras", hier Stroh.

Am Ende kommt noch ein AT. Dann kommt ein Punkt.
Sie liest das als ATA OT AT.

Ich lese aber, ATEA OTE ATE.

Das heißt "Wirf dem Pferd Stroh".

So fangen die ersten Schwierigkeiten in der Schule an. Bald stellt die Lehrerin fest, dass ich sehr süß bin aber niemals lesen lernen werde.


 
 
was bisher geschah?
fortsetzung folgt

 
start: 28 octobre 2019, up-date: 28 octobre 2019