Hamdi Bey

 
Volksschule "Zihni Pascha"
Roman
 
HAMDI BEY
 
Sigmundsherberg, 26. 09. 2019



Noch einmal bringt mich meine Mutter in die Schule.

Jetzt trage ich in der linken Hand die Schultasche, in der rechten den Essenskorb.

Mein Vater hat recht gehabt: Die Schule ist ganz schön teuer!

Ich habe bereits verstanden: Irgendjemand gibt meinem Vater jedes Monat Geld. Und das reicht gerade für das Essen. Wenn wir dieses Geld für etwas anderes ausgeben, haben wir nicht genug zum Essen.

Vor der Schule machen wir halt. Meine Mutter steckt dreißig türkische Lira in das erste Fach meiner Schultasche.

Und sagt: "Pass auf! Das ist viel Geld".

Ich schaue mir das an und halte die Tasche so, wie wenn sie sich an meinem Körper eingliedern sollte.

Fest angeklammert an meine Tasche, gehe ich in die Schule und in die Klasse.

Wir sitzen noch nicht. Zuerst müssen wir "Schwur" trinken.

"Türküm!"
"Doğruyum!"

Auch während dieser Maskerade halte ich den Griff meiner Tasche mit aller Kraft in meiner linken Hand.

Die Lehrerin sagt:

"Liebe Kinder! Jetzt steckt eure Schultaschen in das Fach unter den Schultischen.
Wir gehen zum Hamdi Bey."

Hamdi Bey?

Ich mache meine Schultasche auf. Nehme das Geld heraus. Stecke es in die linke Tasche meiner Schürze, und mit meiner linken Hand in der Schürzentasche halte ich es sehr fest angedrückt.

Wir gehen von der Schule hinaus.

Zweier Reihe!

Rechte Hand auf der Schulter des vorderen Schülers.

Abstand halten!

Marschieren!

 

 
 
Bahnhof Erenköy. Quelle: http://lcivelekoglu.blogspot.com/2013/12/ekstasyonlar-4-erenkoy-tren-istasyonu.html

 

Jetzt stehen wir hinter dem Bahnhof.

Gegenüber dem Bahnhof sind die bereits erwähnten hohen Häuser. Unter ihnen sind ebenerdige Geschäfte. Manche davon sind sehr klein.

Die Lehrerin geht in so ein kleines Geschäft, ungefähr so groß wie unser Klo in unserem Wohnschuppen, und kommt wieder heraus.

"Liebe Kinder! Hier ist der Hamdi Bey. Er wartet auf euch. Bitte einzeln hinein gehen. Begrüßen, und das Geld ihm geben. Er gibt euch eine Packung. Die Packung mitnehmen und wieder heraus. Wenn ein Kind herauskommt, geht der nächste hinein.

Es ist eine sehr langsame Prozedur. Einige Kinder gehen verloren in diesem Loch. Jedes Mal glaube ich, dass sie niemals wieder zurückkommen. Aber sie kommen immer heraus mit einem Paket in der Hand.

Jetzt bin ich an der Reihe. Ich gehe hinein.

Das Geschäft ist wirklich so breit wie unser Klo. Aber mindestens doppelt so lang geht es nach hinten. Und mindestens doppelt so hoch.

Nach ein paar Schritten komme ich zu einem Tisch. Auf der linken Hälfte des Tisches ist die Tischplatte von dem Rest abgeschnitten und auf der rechten Seite, ungefähr in der Mitte, mit Scharnieren befestigt. Also, wenn jemand hinein oder hinaus gehen will, kann er die Klappe von der linken Seite greifen und abklappen.

Hinter dem Tisch sind Regale, die bis zur Decke hinauf reichen.

Wie ich zum Tisch komme, steht ein Mann dahinter auf einer Stehleiter. Er holt einige Pakete herunter.

Er stellt die Pakete auf den Tisch und sehr breit grinsend schaut er mich an:

"Willkommen!", sagt er.

"Merhaba!", sage ich.

"Geld?", sagt er.

"Da!", sage ich und lege die zerdrückten Papierscheine auf den Tisch.

Das ist der "Hamdi Bey".

Er ist so alt wie mein Vater. Aber viel kürzer. Und auch viel dicker. Und hat weniger Haare als mein Vater. Er hat auch die mächtigen Augenbrauen meines Vaters nicht und seine Augen sind viel kleiner.

Warum heißt er "Bey"?

Gewöhnlich heißen die Verkäufer "Efendi".

Ich finde sofort eine Antwort:
Er verkauft keine Kartoffeln. Er verkauft Schreibwaren. Diese Sachen kaufen die Leute, die lesen und schreiben können. Also gehört er zu der Gruppe wie mein Vater. Daher ist er ein "Bey".

Er nimmt das Geld. Auf dem Tisch ist eine Metallschachtel mit mehreren Fächern. Er legt das Papiergeld sortiert in verschiedene Fächer. Und grinst.

Er gibt mir ein paar Münzen zurück und ich stecke sie in meine Tasche.

Ab jetzt werde ich ziemlich oft zum Hamdi Bey gehen.

Jedes Mal, wenn ich ihm Geld gab, steckte er seine Zunge heraus und schleckte seine Lippen gründlich.

So schleckt er seine Lippen ab und sagt:

"Nimm!". Und schiebt eines der Pakete zu mir.

Es ist ein rechteckiges Paket. Ordentlich verpackt in einem hellen Packpapier. Fest gebunden mit einem Spagat. Ganz oben ist ein "Paketträger" angebracht.

Später mache ich den Paketträger auf und untersuche ihn. Es ist eine runde Stange, so lang wie die Handfläche eines Erwachsenen. In der Mitte geht ein Metall Draht durch. Dieser Draht hat an beiden Enden Schlingen. Da wird der Spagat eingesteckt. Die Stange besteht aus gerolltem Karton. Ich rolle ihn aus. Er hat viele unregelmäßige Löcher. Was könnte das bedeuten?

Später war ich mehrmals im Bahnhof, im Bahnwärteramt. Dort stand eine große Maschine. An der rechten Seite der Maschine rollte sich ein Kartonstreifen. Und die Maschine stanzte darauf Löcher.

Heute kann ich sagen, das war eine Art Urcomputer. Und der Karton war Lochstreifen. Daraus machten sie damals Paketträger.

Wir tragen jetzt unsere Pakete in die Schule. Jetzt machen wir die Pakete auf und legen die Sachen auf den Tisch. Dann kommen auch die Schultaschen auf den Tisch.

In das erste Fach kommen zwei Bleistifte, ein Radiergummi und ein Bleistiftspitzer.

In das zweite Fach kommen ein gelbes Heft und ein weißes Heft.

Das gelbe Heft ist drei Finger stark. Lässt sich schwer öffnen. Die Seiten sind in der Farbe einer Honigmelone. Wahrscheinlich aus Holz oder irgendwelchem Abfall erzeugt. Das Papier hat überall Astlöcher.

Das weiße ist ein Finger stark und hat überall Linien.

Ganz hinten kommen die Bücher.

Ich habe jetzt zwei Bücher. Ich weiß noch nicht, was sie sind.

 

 
 
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start: 02 septembre 2019, up-date: 02 septembre 2019