"Ich habe im Google-Maps den ganzen Weg gefunden.", sagt Karin.
"Wir brauchen die Autobahn überhaupt nicht. Wir fahren nur auf der Landstraße. Ich werde deinen Rollstuhl bis dorthin ganz langsam und gemütlich weiterschieben."
"Wohin?"
"Nach Grado."
"Was ist das?"
"Das ist ein Ort in Italien. Wunderschön. An der Küste des Adria-Meeres."
"Ich fürchte mich!", sage ich. Ich habe mindestens dreißig Jahre kein Meer gesehen. Entweder bekomme ich Angst, oder werde ich meeressüchtig. Was soll ich dort tun? Mit nur einem Bein kann ich nicht mehr schwimmen."
"Du wirst am Strand sitzen. Den übriggebliebenen Fuß ins Wasser eintauchen, und unter Vollmondschein deinen Whiskey trinken."
"Ich habe keine Ahnung, wieviel dort eine Flasche Whiskey kostet. Glaubst du, kann ich das bezahlen?"
"Wir können die Flasche von hier mitnehmen. Ich will dir nur eine Freude machen."
"Du bist meine Königin!", sage ich.
"Du bist drei Mal geimpft. An der Grenze hast du keine Probleme. Du musst nur noch deinen Reisepass verlängern."
"Wie mache ich das?"
"Ruf die Gemeinde an."
"Nein!", sagt die Gemeindetante während sie strickt. "Dafür ist die Hofburg zuständig."
"Bundespräsident?"
"Kommt darauf an. Sie sind Akademiker, oder?"
"Ja?"
"Dann rufen sie diese Nummer. Haben sie etwas zum Schreiben?"
Ich schreibe eine Nummer mit Wiener Vorwahl auf und rufe sie an.
"Bundes Plagiatsdirektion!" sagt die Dame am Telefon. "Wollen Sie mit dem Chef persönlich sprechen?"
"Von mir aus.", sage ich.
"Bitte vergessen Sie nicht, ihn mit dem vollen Titel anzureden: Herr Amtsrat Ord. Prof. Dr. Dr. Mag. Heinimüller. Wen darf ich anmelden?"
"Memo Schachiner, Doktor."
Sie verbindet mich mit dem Amtsheini.
"Grüß Gott, Herr Kollege, Grüß Gott. Sie brauchen einen neuen Amtstitel, Herr Kollege, bin ich richtig?"
"Reisepass!", sage ich.
"Haben Sie ein Parteibuch?"
"Kein Parteienverkehr. Ich bin behindert."
"Parteibuch, Herr Kollege, Parteibuch. Ohne Parteibuch kann ich Ihnen kein Plagiat schenken. Haben Sie wirklich kein Parteibuch? Was für ein Versäumnis."
"Verdammt noch einmal!", sage ich, "Reisepass!"
"Wenn ich nicht unrichtig wahrnehme, haben Sie einen eigenartigen Akzent, den ich keinem Bundesland zuordnen kann. Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?"
"Aus dem wilden Kurdistan!", schreie ich.
"In diesem Fall müssen Sie mit Herrn Nehammer sprechen. Er ist unser neuer Flüchtlingsbeseitigungsminister. Ich lasse Sie verbinden."
Ich muss zugeben, dass der Nehammer mit mir freundlich spricht. Aber ich kann seine Entenstimme nicht ausstehen.
"Es ist kein Problem, Herr Doktor.", sagt er. "Sie müssen uns nur zwei Fotos schicken. Einmal von Ihnen, einmal von Ihrem Vater. Bitte in EU-Format und Digital."
"Von meinem Vater?"
"Wie alt ist Ihr Herr Vater?"
"Er ist schon tot.", sage ich.
"Wann war das Begräbnis?"
"Vor mehr als fünfzig Jahren", sage ich.
"Dann gibt es keine Probleme. Laut AOBG Absatz 3061 Paragraf 12 A1 dürfen Sie drei Wochen nach dem Begräbnis jeden Verstorbenen fotografieren. Haben Sie ein Handy?"
"So ein Samsung Galaxy Ding habe ich."
"Perfekt! Ein Selfie von Ihnen, ein Selfie des Herrn Vater. Schicken Sie uns alles als E-Mail-Beilage. Zwei Wochen später bekommen Sie Ihren Pass mit der Post geschickt."
"Danke schön!" sage ich.
"Einziges Problem ist die Pandemie. Wegen der Pandemie haben wir derzeit Personalmangel. Wir können Ihnen keine Hilfe schicken."
"Das heißt?"
"Sie müssen Ihren Herrn Vater allein ausgraben!"
Ob ich geschrien habe? Weiß ich nicht. Als ich aufwache, stelle ich fest, dass die liebe Karin neben mir liegt. Anscheinend ist auch sie frisch aufgewacht.
"Ich habe geträumt.", sagt sie, und weint. Hat sie denselben Traum geträumt?
"Jetzt weiß ich.", sagt sie. "Ich habe alles verloren."
"Was hat meine Prinzessin verloren?"
"Ich kann nur deinen Rollstuhl schieben. Sonst bin ich für dich nichts wert. Du hast mich nie geliebt. Du liebst eine andere Frau, obwohl sie viel älter ist als ich. Ich werde mich an dem alten Kirschbaum aufhängen."
"Was ist mit Grado?"
"Kommst du wirklich nach Grado mit?"
"Ich kann nur dorthin, wo du mich hinschiebst."