fronleichnam

FRONLEICHNAM
 
Fronleichnamsprozession in Hofgastein, Adolph Menzel, 1880
 
 

In dieser Marktgemeinde in Niederösterreich leben zweitausendfünfhundert Personen.

Tausendfünfhundert davon tragen den Nachnamen Hofschlecker, die restlichen eintausend Fettknecht. Nur der Bürgermeister kommt aus der Familie Lang.

Seit Jahrhunderten achten alle Familien darauf, dass sie ja nicht vermischt werden.

In diesem Ort leben auch zwei Ausländer: Einer davon bin ich, der andere ist der Pfarrer der "Heiligen KFZ-Kirche".

Vor zwei Jahren vergaß eine Bäuerin, eine ältere Witwe, ihren Regenschirm in der Kirche. Wie sie zurückkam um diesen zu holen, erwischte sie den Pfarrer mit einem Ministranten. Sie prügelte die beiden mit dem Regenschirm so lange, bis die beiden halbnackt hinausliefen.

Danach fand die Gemeinde zwei Jahre lang keinen neuen Pfarrer. Die SPÖ-Fraktion im Gemeinderat wollte die Kirche an den REWE-Konzern verkaufen.

Danach kam der jetzige Pfarrer aus dem Senegal. Er bekam aber in Österreich keine Arbeitserlaubnis. Darauf ging er nach Vatikan und bekam dort die Staatsbürgerschaft. Er kam wieder zurück nach Österreich und durfte jetzt als EU-Staatsbürger seine Hirtenpflicht ausüben.

Seitdem setzt man ihm bei der Spendensammlung der "Drei Heiligen Könige" ungeschminkt als Caspar ein.

Da ich im Rollstuhl lebe, kann ich mein Haus nicht verlassen. So schaue ich die ganze Zeit von dem Fenster hinaus. Ich wohne auf der höchsten Stelle es Ortes. So sehe ich die Hauptstraße bis zur "KFZ-Kirche" hinunter.

Heute ist Fronleichnam.

Zuerst kommt der Pfarrer aus dem Kirchentor hinaus. Ein großgewachsener Mann um 35.

An seinem Hals hängt ein massives Hackenkreuz aus Holz. Mindestens zwanzig Kilo. Inmitten diesem Bauernschnitzwerk ist ein Autolenkrad mit einem Mercedes-Zeichen befestigt.

Auf seinen beiden Seiten marschieren die Ministranten mit Kuhglocken. Sie spendieren mit kreisenden Armbewegungen nach rechts und links Güllenduft aus ihren Kuhglocken.

Hinter ihm kommen zwei mollige Bäuerinnen in altmodischen Trachten. Sie tragen ein riesiges Kruzifix auf ihren Schultern, samt Jesus mit den Füßen oben und dem Kopf hinter ihnen hinunter hängend.

Dahinter ist der Bürgermeister, umhüllt in eine ÖVP Fahne. Auf seinem Kopf trägt er Pferdegeschirr mit Scheuklappen. An seinem Halsband ist eine dünne Eisenkette befestigt, die mit Abzweigungen bis zum Ende der Prozession reicht. Unter dem Gewicht der langen Ketten bewegt sich der Bürgermeister sehr langsam.

Links von ihm marschiert seine Frau. Ihre Busen hängen draußen und gleich bis zu ihrem Bauch. An jedem Euter hängen fünf Kinder, zwischen vier bis zehn Jahren und marschieren mit.

Ob Kind oder erwachsen, hängen die meisten Leute von ihren Halsbändern an den Ketten des Bürgermeisters. Manche aber haben keine Ketten, sondern nur Handschellen. Diese halten Ratschen in ihren Händen und drehen sie ununterbrochen.

In der langen Schlange danach tragen viele Ortsbewohner, ob Frau oder Mann, aus dunkelbraunen Leder angefertigte Beißkörbe auf ihren Mündern und Nasen. Diese Leute sieht man außer zur Fronleichnam Prozession nie auf der Straße.

Familie Hofschlecker hat ein großes, Kasernen ähnliches Gebäude am Ortsrand. Wenn man dort um zweihundert Meter nahekommt, stinkt es nach Schweinescheiße. Wenn man noch näherkommt, hört man auch seltsame Geräusche. Manchmal liegt ein Schweinskadaver vor der Tür. Man sagt, dass drinnen viele Betonzellen eingebaut sind für die einsamen Schweine.

Da die Schweine nur mit den Sojabohnen aus Brasilien auf dem ehemaligen Gelände der tropischen Wälder gefüttert werden, nennt man sie Bioschweine.

Außerhalb der Festtage werden auch die bissigen Ortsbewohner hier eingesperrt.

Warum so viele Leute in diesem Ort so bissig sind? Darüber gibt's verschiedene Theorien:

Manche sagen, da sie alle bei der Gegenreformation zum Katholizismus konvertiert sind, dass der Gott sie verflucht hat. Nach Rassentheorien ist es eine germanische Rasseneigenschaft. Nach einer anderen Theorie, nachdem die örtlichen Wilderer Franz Josefs ein paar Hasen erlegt haben, hat der Kaiser für die Bevölkerung Maulkörbe angeordnet. Mit der Zeit wurde das ein genetisches Erbe. Nach Darwin ist nach Jahrhunderten langem Inzest diese Mutation entstanden. Aber da die Bevölkerung hier außer Hitler, Papst und Bürgermeister keine Berühmtheiten kennt, hat Darwin hier nichts verloren.

Ganz vorne links marschiert ein sehr großer Mann mit Halskette und Maulkorb. Seine Hände sind frei. Mit der rechten Hand trägt er eine Art Keule aus Holz, wahrscheinlich ein traditionelles Bauerngerät. In der Länge reicht es bis zu seinen Schultern. Oben hat der Apparat eine Kugel. Danach ist es eine vierkantige Pyramide. Wofür wurde das früher verwendet?

Sicher kein Gehstock. Jeder Gentleman würde das von der Brücke in die Themse hinunterwerfen.

Der Mann hebt das bei jedem Schritt hoch und stampft es wieder auf den Boden:
Tock, Tock, Tock!

Die ganze Prozession summt ein Lied ohne Worte unisono. Es ist bedrohend laut aber für mich unverständlich.

Rechts und links an den Gehsteigen laufen Gemeindearbeiter mit. Ihre Hosen haben phosphorizierende Streifen. Mit ihren aus Lederriemen geflochtenen sehr langen Peitschen versuchen sie die lahme Masse voran zu treiben.

Die Bevölkerung ist überaltert. Aus ihren Maulkörben rinnt Schleim herunter. Sie verlieren bei jedem Schritt Körpersäfte auch aus ihren anderen Löchern. So hinterlassen sie hinter sich feuchte Spuren wie die Urzeitschnecken.

Mittlerweile hat die Prozession mein Haus erreicht. Ich habe Angst.

Während ich durch das Fenster das Geschehnis auf der Straße aufmerksam betrachte, höre ich, dass hinter mir die Haustür aufgeht.

Ich sperre die Tür niemals zu. In meinem Haus gibt es nichts Wertvolles außer die Bücher. Da die Bevölkerung hier außer Parteibuch, Sparbuch und Gesangsbuch der Kirche keine Bücher kennt, brauche ich meine Bibliothek nicht zu schützen.

Ich dreh meinen Rollstuhl zurück und fahre zur Haustür. Die Tür geht langsam auf. Es kommt eine junge Frau herein. Sie ist höchstens zwanzig. Ihr Mund ist mit einem grauen Pflaster zugeklebt. Ihre Nase ist frei. Auf ihren Kopf haben sie einen Nylonstrumpf aufgezogen. Sie hat ganz große grüne Augen und den unschuldigen Blick einer fünfjährigen. Sie ist nicht angekettet aber ihre Hände sind mit Handschellen gebunden.

Auf ihrer rechten Schulter sitzt eine dunkelgraue Katze mit helleren grauen Streifen in majestätischer Ruhe. An der Stelle ihres rechten Auges ist nur ein rotes Loch. Mit dem linken Auge betrachtet sie mich mit der Aufmerksamkeit eines Uhrmachers.

Da mein linkes Bein amputiert wurde, habe nur noch das rechte. Das Mädchen kniet vor meinem Rollstuhl und beginnt ihr Gesicht an meinem Knie zu schmieren. Auf einmal aus einer Zelle einer Schweine-Kaserne ausgelassen, will sie jetzt wahrscheinlich alle ihre Jugendbedürfnisse an meinem kaputten, alten Körper befriedigen.

Die Katze betrachtet mich mit dem prüfenden Zyklopauge eines Säulenheiligen. Ich will das Mädchen nicht schlagen, ihr keinen Fußtritt geben. Im Gegenteil: Ich will ihre Haare streicheln…

Ich habe aber Angst: Was ist, wenn das ansteckend ist und auf einmal aus mir so ein "Inländer" mit Bierbauch und Rotznase wird? Werde ich niemals mehr ein Buch lesen? Werde ich niemals mehr Musik hören außer die der "Volkstümlichen Idioten"? Werde ich nunmehr nur Kraut und Knödel essen? Werde jeden Sonntag acht Stunden Auto putzen? Allein die Vorstellung, dass ich mir eine Blechkiste kaufen und sie zur Kirche zur Einweihung bringen muss, schreckt mich ungeheuer.
So sanft wie möglich, mit meinen beiden Händen, versuche ich das Mädchen hinaus zu schieben.
Während dessen höre ich einen Riesenlärm hinter mir.

Meine Haustür ist auf der Südseite. Auf der Nordseite streift mein Haus die Hauptstraße. Auf dieser Seite habe ich weder Fenster noch eine Tür. Nur eine massive Mauer. Um diese ca. achtzig cm. breite Steinmauer mit den Händen aufzubauen brauchte ich ein Jahr. Jetzt klopfen die Gemeindearbeiter mit Baumaschinen darauf. Wie es klingt, sind sie bald im Haus.

Das Mädchen ist nicht willig, aber sanft. Sie lässt sich Zentimeterweise hinausschieben. Jetzt ist sie draußen. Ich mache die Tür zu. Ich komme mir vor wie ein Mörder.

Ich drehe mich um. Hinter mir ist ein Riesenloch. Zwei Männer mit Maulkörben versuchen sich hinein zu zwängen.

Dann sehe ich hinter ihnen das Pferdegesicht des Bürgermeisters:

"Nicht beißen!"
schreit er,
"Nicht beißen! Er ist Ausländer! Wir essen kein Ausländerfleisch! Unser Blut muss rein bleiben!"

Was für eine beruhigende Information. Danke Herr Bürgermeister.

Ich drehe mich um und schlafe weiter.


 
 
start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016