Der Botschafter

Die schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
 
Roman
 
DER BOTSCHAFTER

Es ist bereits dunkel. Ich gehe die steil abfallende Kazanci (=Kesselmacher) Straße in Richtung Hafen.

Bald kommt nach rechts eine Abzweigung. Wenn man der schmalen Gasse ein Stück folgt, kommt ein kleiner Park tief unter einem Hügel. Dort ist eine kleine Wiese, umrahmt von ein paar Bäumen. Ich kenne diesen Park von meiner Kindheit.

Ob dieser Park einen Namen hatte, wenn dann was für einem, kann ich mich nicht mehr erinnern.
Obwohl die Zieheltern von meiner Mutter, die sie nicht einmal in die Schule zu schicken bereit waren, nicht mit der Religion und Moschee zu tun hatten, nannten sie sich Muslime. So nannte auch meine Mutter, die vom Islam keine Ahnung hatte, sich Muslimin.

Trotzdem pflegte meine Mutter, bevor 1955 und in den folgenden Jahren die letzten Griechen vertrieben wurden, mit ihren griechischen Nachbarinnen enge Freundschaft und war an den Nachrichten aus Griechenland sehr interessiert.

Zur Paskalya (=Ostern) durften die Griechen in Istanbul eine Prozession abhalten, aber in der Dunkelheit und ohne von den Muslimen gesehen zu werden. Ein dazu reservierter Platz war dieser Park.

Ich kann mich von meiner Kindheit wage erinnern, dass ich mindestens einmal mit meiner Mutter in diesem Park gewesen bin. Es war Abenddämmerung und es marschierten vielleicht hundert Männer, Frauen und Kinder hier im Kreis. Alle hatten brennende Kerzen in ihrer rechten Hand. Auch ich und meine Mutter. Ich hatte weder von Jesus noch von der Auferstehung eine Ahnung, aber die Prozession gefiel mir und ich marschierte fröhlich mit.

Am Rande des Parks gibt es auch ein paar Sitzbänke. Ich bin öfters, manchmal mit einem Doppler Wein und ein paar Simit (=Sesamring), mit einigen Genossen hier gesessen und habe über die Strategie und Taktiken der Revolution diskutiert.

Zuletzt bin ich vor ein paar Monaten mit Taner Kutlay und Mustafa Ilker Gürkan hier gesessen.
Nach einigen Minuten zischte ein Kugelhagel vor unseren Gesichtern, so dass wir dessen Wind ganz nahe spürten.

Rechts von uns auf dem Hügel standen zwei Beamte des Geheimdienstes in ihrem vom Staat spendierten schwarzen James Bond Anzügen und schwarzen Sonnenbrillen und zielten auf uns.
Mustafa zog sein Parabellum heraus und schoss das ganze Magazin (14 Kugeln) auf einmal leer. Kein Treffer. Die Ratten sind aber mindestens sechzig Meter weit. Sie laufen davon.

Taner und ich haben keine Waffen.

"Götosch Emperyalizm!" (Arscherl Imperialismus!), schreit Mustafa. Wenn er sich ärgert, schreit er immer so.

"Götosch Emperyalizm!"
"Götosch Emperyalizm!"
"Götosch Emperyalizm!"

Die Ratten sind längst weg.
"Wir gehen", sage ich und stehe auf.
"Ich bleibe!", sagt Mustafa.
"Das ist Selbstmord", sagt Taner, "bald kommen mindestens zwanzig Ratten."

Ich bin mit einem Doppler billig Wein gekommen. Die Flasche ist noch halb voll. Ich nehme die Flasche mit und gehe langsam weg. Taner kommt mit. Nach zwei Minuten kommt Mustafa laufend und schließt sich an uns.

Abenddämmerung. Ich stehe auf dem Hügel. Unten im Park sitzt jemand auf einer Bank allein und schaut in meine Richtung. Ist er Taner? Sehe ich nicht so gut in der Dunkelheit. Anschreien will ich ihn nicht.

Ich gehe weiter hinunter. Es ist Taner. Erst als ich vor ihm stehe springt er auf und umarmt mich so fest, dass meine Knochen knirschen.

"Ich habe Sorgen um dich gehabt!", sagt er.

"Ich auch um dich!", sage ich. "Lieber Taner, ich bin hier vollkommen nutzlos. Ich habe nicht einmal eine Waffe. Ich weiß nicht, wo ich mich morgen verstecken soll. Ich will mich an Mahir und Co. anschließen. Kannst du mir dabei helfen?"

"Langsam", sagt er. Ich will auch zum Mahir. Ich weiß aber nicht, wo er jetzt ist. Wahrscheinlich irgendwo in Anatolia. Ich habe aber einen heißen Draht. Ich muss nur warten. Dann kann ich dich mitnehmen, Hast du ein sicherer Versteck inzwischen?"

"Nein. Außer… Mein Vater ist inzwischen in Mersin Zollwachedirektor geworden und hat mich dorthin eingeladen. Ich weiß aber nicht, was ich dort tun soll?"

Stille. Einige Minuten schauen wir beide zum Boden.

Dann sagt Taner:
"Ich habe eine Idee! Der Widerstand hat keinen Botschafter in Europa. Ohne die internationale Solidarität kommen wir nicht weiter. Wir brauchen Waffen, Spenden, die Unterstützung der ausländischen Presse. Und vor allem politische Kontakte. Du kannst Türkisch, Kurdisch, Englisch und ein Bisschen Griechisch. Du wirst der Botschafter des Widerstands! Gehe zu deinem Vater, er soll dir einen Reisepass besorgen!"

"Spinnst du? Während jeden Tag meine Genossen hier sterben soll ich flüchten?"

"Keine Rede von Flucht. Wir brauchen einen Botschafter. Das ist eine sehr ehrenvolle Aufgabe."

"Ich habe bisher mit niemanden darüber gesprochen. Was werden die Genossen dazu sagen?"

"Ich bin bald bei Mahir. Ich werde den Genossen mitteilen, dass du unser offizieller Botschafter bist. Alle kennen dich und alle schätzen dich. Einen besseren Botschafter können wir nicht finden. Alle werden sich darüber freuen."

"Und wie soll mein Vater mir einen Reisepass finden? Ich werde spätestens an der Grenze angehalten."

"Wir kennen dich nicht nur als furchtlosen Memo/Günesch, sondern als einen sehr schlauen Fuchs. Das ist dein Problem und du wirst dieses Problem lösen. Du bist unser Botschafter. Dass ist nicht nur mein Wunsch, sondern ein Befehl des Zentralkomitees. Ich hoffe, dass wir uns spätestens in einem halben Jahr wiedersehen"

Ich habe Taner nach fünfundzwanzig Jahren zum ersten und letzten Mal in Istanbul wiedergesehen. Er war so wie ich für den aktuellen kurdischen Widerstand engagiert und schrieb in der verbotenen Zeitung des Widerstandes "Özgür Gündem" (Freie Tagesordnung).

Ich verlasse Taner. Damit verlasse ich auch alle meine bisherigen Lebensträume. Ich gehe und schaue immer zum Boden. Immer wieder drehe ich mich um und schaue nach, ob ich verfolgt werde.
Was bin ich jetzt? Ein abtrünniger Deserteur der Revolution? Mein eingeborener Buckel wird immer größer.

Dann denke ich dran, dass die Historiker schreiben werden, dass der Botschafter der Revolution ein Buckliger war.

Ich bin "der" Botschafter. Ich versuche möglichst gerade zu stehen. Ab jetzt werde ich auf meine Bekleidung, meine Frisur, mein Benehmen achten. Vor allem werde ich jedes Wort, dass ich spreche, vorher fünf Mal überlegen.

Erste Aufgabe des Botschafters ist, mit dem Flugzeug nach Adana zu kommen, ohne erwischt zu werden. Dort wird mich mein Vater abholen.

Jetzt suche ich eine Baustelle, wo ich pennen kann.


 
 
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start: 19 novembre 2017, up-date: 19 novembre 2017