Ypsül

Ypsül
 
Liebe Ypsül!
Du bist so schön!
Ich muss Dich verewigen...
 
Exakt zehn Jahre nachdem mich meine zweite Geburtsstadt verlassen hat, befinde ich mich wieder in Wien und ausgerechnet auf der Taborstraße. Es kommt zwar kein Tropfen Regen herunter aber die Fortuna hat den ganzen Himmel zu meiner Ehre mit schweren Bleiplatten zugedeckt. Von dem üblichen Stoßverkehr ist keine Spur. Was mich aber besonders befremdet, ist die unvorstellbare Stille. Nicht einmal der von der Ferne kommende Gäruschteppich des Straßenverkehrs ist wahrzunehmen. Und ich gehe, obwohl mein linkes Bein vor kurzem amputiert worden ist und ich weder Krücken noch ähnliches bei mir habe. Ich gehe und ich gehe und ich gehe.
Und vor mir geht oder fast rollt eine kleine Gestalt, die ich nur von hinten sehe, aber als eine Frau vermute. Sie hat kurzes dunkelblondes Haar und ist von oben bis unten mit einem Fleckerlteppich, sozusagen mit einer Bettdecke aus bunten Flecken zusammengenäht, bekleidet.
Ist das ein Clown? Oder ist sie ein Hippiemädchen aus meiner Jugend? Vielleicht ist sie eine Fee?
Da sich ausser uns kein Mensch auf der Straße befindet, denke ich, dass es eine peinliche Situation ergeben würde, falls sie sich plötzlich umdrehen sollte.
Gerade in diesem Moment dreht sie sich um, schaut mich von oben bis unten streng prüfend an, und dann sagt sie: „Wie heißt du?“.
„Memo“.
„Komischer Name“, sagt sie.
„Und wie heißt du?“
„Ypsül“, sagt sie.
„Auch ein komischer Name“.
Sie sagt: „Ich bin Türkin“.
„Das ist aber kein türkischer Name“.
„Woher soll ich das wissen“ sagt sie, „mein Vater war immer besoffen“.
„Und deine Mutter?“.
Sie lacht...
„Sie hurt“ sagt sie. „Eigentlich ist mein Vater der Hannes von der Tankstelle. Er hat mich immer gefüttert und gefickt.“
„Und wo ist er jetzt?“ „Woher soll ich das wissen“ sagt sie, „ich war auf einmal schwanger, dann hab ich abgetrieben und ihn verlassen.“
Auf ihrem runden Gesicht beobachten mich zwei honig farbene Kugelaugen ganz scharf. Unter ihrer kleinen Stupsnase lachen mich volle Lippen an und an ihren Seiten empfangen mich zwei Grübchen freundlichst.
Ich kenne dieses Gesicht! Ich kenne dieses Gesicht sehr gut und seit sehr langer Zeit. Aber woher?
Mein Hirn-Google funktioniert nicht. Vielleicht wegen der Opiate und anderer Schmerzmedikamente. Ich bin seit 7 Monaten im Krankenhaus Horn, und in der vorletzten Station des Proletariats ist das erste Gebot, die Kunden möglichst ruhig zu stellen.

Ypsül und ich kommen mit nicht wahrnehmbaren Schritten einander näher. Auch diesen Tanz kenne ich irgendwoher. Nun, ich halte ihren Kopf zwischen meinen Händen und ziehe sie ganz sanft an mich. Dann merke ich erst jetzt, dass ihr ganzes Gesicht von feinen Falten benetzt ist. Gerade ihre schönen Lippen sind von mehreren schwarzen senkrechten Strichen gerastert. Was sind das für Striche? Ist das verkrustetes Blut?
Wie alt dürfte sie sein? Ist sie zwanzig, ist sie fünfzig?

Ihr Honigblick umrahmt mich. Es gibt kein Entkommen. Ich gehöre ihr. Jetzt ist der Moment gekommen, wo wir uns küssen könnten. Aber wir küssen uns nicht.
Mein Körper beginnt zu beben. Ein unsichtbares Beben. Nur von mir, nur von innen wahrnehmbar. Trotzdem ein sehr starkes Beben, ohne ein bißchen heftig zu sein. Aus ihren Schlüsselbein Knochen kommt eine Strahlung heraus und durchleuchtet meine Brust, meinen Bauch, meine Hüften.
Ich schaue ihre Schlüsselbeinknochen an. Sie bewegen sich überhaupt nicht. Nicht einmal ein leises Zittern ist zu sehen.
„Gehen wir!“ sagt sie.
„Wohin?“
„Zu mir.“
„Ja.!“, sage ich, glücklich in meiner Wehrlosigkeit.
Ich lege meine rechte Hand auf ihre Hüften und wir gehen.
Seit ich dieser kleine Frau begegnet bin, habe ich vergessen, dass ich mein linkes Bein nicht mehr habe und ich nicht mehr gehen kann. Ich vergesse auch die Stromschläge, die meine abgeschnittenen Nerven pausenlos zu meinem Hirn schicken. Sie verursachen die größten Schmerzen, die ich mir bisher jemals vorstellen konnte. Und das ohne eine Pause Tag und Nacht. Wenn die Amputationswunde die Matratze berührt, wirft mich ein Stromschlag zu Boden. Deswegen bin ich seit Monaten nie im Bett gewesen.

Ab jetzt ist aber alles anders. Die Schmerzen sind Verschwunden. Ich kann wieder gehen wie ein Pfau auf Schlittschuhen. Ab jetzt habe ich viel zu tun. Ab jetzt bin ich da, um diese kleine Frau glücklich zu machen. Ich werde in ihre Augen schauen, in ihre Ohren flüstern, und mit ihr durch die Straßen laufen... Laufen... Laufen... Bis zum Ende der Welt.

Jetzt kommt eine Prise Wind zu uns. Zwei Monate nach der Amputation heilt meine Wunde noch immer nicht. Meine Muskeln lösen sich in gelben und schwarzen Flüßigkeiten auf und fließen durch den Verband raus. Das nennen die Ärzte „Nekrose“ glaube ich. Ich beobachte täglich, wie mein Körper sich stückelweise in den Tot auflöst. Und meine Wunde riecht wie die toten Mäuse. Ich muß still bleiben. Ich möchte nicht, dass die Ypsül merkt, was für Gerüche aus meinem Körper kommen.
Der Wind ist wieder weg. Wir gehen weiter.
Bei dem nächsten Gebäude auf der rechten Seite ist ein Baugerüst aufgestellt. Wir überqueren die Straße und gehen dorthin. Ein Baugerüst in Wien würde uns sonst nicht auffallen, aber auf der ersten Etage sitzt ein großer junger Mann und arbeitet vor sich hin an etwas. Er schlägt mit einem Schusterhammer auf eine Schusterleiste. Kleine Schläge. Durch das Leder gedämmt, sind sie fast lautlos. Das fällt uns auf. Wir kommen unter sein Gerüst. Auch er bemerkt uns jetzt. Schaut herunter. Und unter seinen blonden Locken hat er das Gesicht eines Spielkartenprinzen. Sein blondes Haar leuchtet wie die Sonnenstrahlen.
„Guten Tag“, sage ich, „was machen Sie da, wenn ich fragen darf?“ Mit einem starken ungarischen Akzent sagt er, dass er handgemachte Schuhe für beinamputierte Menschen erzeugt.
Er hat gerade eine rechte Sandale für den rechten Fuß gemacht. Aus bestem Material. Aber weil er schwarz arbeitet, ist er bereit, diese uns gegen zwanzig Euro abzugeben. Ich bin einverstanden. Er nimmt meinen in den Gängen des Krankenhauses zerfetzten Filzspantoffel von meinem rechten Fuß ab und zieht mir die neue wunderschöne Sandale an und schließt die Schnalle zu. Ypsyl lacht wie ein kleines Kind, das zwanzig Luftballons erhalten hat. So schön kann eine Frau lachen. Ich liebe sie! Ich liebe sie!

„Ich will aber vorher eine Flasche Rotwein kaufen“,sagt sie.
„Das machen wir gemeinsam“, sage ich, und wir gehen weiter.
Endlich sehen wir das Leuchtschild von einem Billa. Die Türen sind noch offen. Wir gehen hinein. Aber sofort hören wir eine weibliche Stimme: „Kassa ist geschlossen.“ Wir gehen wieder hinaus. Jetzt beschleunigen wir unseren Gang, weil aus der Bleidecke fallen langsam dicke Tränen herunter.Die Kellner räumen die Sonnenschirme in Hast weg, Gäste gehen hinein, und wir sind in einem Weinhaus.
Die Weinhäuser von Istanbul zählten zu den sehr persönlichen Entdeckungen meiner Jugend. Die Burschen in meinem Alter gingen niemals dorthin und die Frauen hatten dort sowieso nichts verloren. Weinhäuser waren nur für die alten Männer, die nicht mehr arbeiten konnten. Und die Weinhäuser waren fast versteckt. Sie waren kleine Räume, die eine schmalen Tür zu der sehr gut frequentierten Hauptstrasse hatten. Da der Zigarettenrauch und andere Gerüche sonst nicht ausdünsten konnten, bleibt die schmale Tür immer offen. Gleich neben der Tür stand der Schiebewagen des Schädelverkäufers mit der Glasvitrine. Er verkaufte die vorher in einer Bäckerei gebackenen Lammschädeln. Neben dem Kasten hingen an einem Nagel die bereits sorgfärtig in der Mitte geschnittenen Zeitungspapiere. Der Lammschädel wurde in einem Blatt verpackt und unter die Axel gesteckt. Darum hießen diese Häuser Axelweinhäuser. Drin waren sonst nur gebratene Paprika zu essen. Der Wirt pumpte immer wieder den kleinen Benzinbrenner am Flur und briet darauf in einer Pfanne Paprika.
Von der Pfanne sprizte immer wieder heißes Öl heraus und die Paprikas dufteten unausstehlich. So gab ich meine letzten Münzen her für sie. Heiße Paprika verbrannte meinem Gaumen für die kommende Woche und trotzdem liebte ich sie.
Wein wurde an der Theke in damals um jede Ecke von Straßenverkäufern angebotenen patentierten bruchsicheren Gläser geschenkt und kostete nur 50 Kurusch. Ich stand dort stundenlang an der Theke und hörte die alten Männer erzählen. So glaubte ich mehr als draußen über das Leben, welches auf jungen unschuldigen Buben auflauerte, erfahren zu können. So war ich nach jedem Rausch gegen die Zukunft noch mehr gewappnet.
Auch die Weinhäuser in Wien gehörten zu meinen Entedeckungen . Aber keine persönliche Entdeckung.- Damals wohnte ich mit Abdullah Gürgün und Erol Sever. Wir wohnten in der Muthgasse in Heiligenstadt. Dort fuhren wir mit der Straßenbahn in die Innenstadt, um alles mögliche zu erledigen und den Tag in einem Weinhaus zu krönen.
Zum Unterschied von den istanbulern waren sie größer, vor der Tür stand kein Schädelverkäufer und es waren auch ein paar alter Frauen da. Es sind auch historische Riesenweinfässer an die Mauer eingebaut und manche wurden noch immer benutzt. Wein bekam man sehr billig an der Theke in Viertelgläsern. Auf diese Gläser waren weisse Weintrauben geätzt. Jetzt hatte ich die Möglickeit, was mir das Leben vorbereitet, nicht nur von alten Männern, auch von den alten Frauen zu lernen. Obwohl im deutschsprachigen Wien meine Zukunftträume als Schauspieler bereits vernichtet waren. Und diese Weinhäuser einen ganz anderen Geruch als die istanbuler Verwandten hatten. Ich dachte damals, das ist der Schimmelgeruch der KuK Monarchie.
Gibt es noch solche Weinhäuser in Wien? Auf jeden Fall waren wir in einem solchen Weinhaus. Mit der Ypsül neben mir wir war ich aber diesmal weder an den alten Männern noch den alten Frauen interessiert. Wir bestellen uns einen Doppler Rotwein zum mitnehmen und gingen wieder hinaus.
Einige Häuser weiter ist eine schmale Tür, und wir sind plötzlich in einem ziemlich heruntergekommenen Stiegenhaus. Ich kenne aber dieses Stiegenhaus. Abgenützte schmale Treppen, herunterblätternde Farbe der Mauer, beizender Schimmelgeruch. Diese Stiegenhaus führt zu der Wohnung vom Karl. Karl, fast zwei Meter groß, genau wie seine Frau, immer freundlich, immer zufrieden, die ganze Woche wie ein Esel arbeitet, jeden Sonntag wie der Hiob betet, lebt in dieser Wohnung. Wenn man die zweifachen Schlösser aufsperrt, kommt mann zu einem schmalen Korridor. Das ist die Küche. Hier gibt es Wasser. Sogar eine selbst gebaute Warmwasseranlage. Dann kommt man zu dem 3x4 Meter großen Zimmer. Ein Doppelbett, ein Esstisch, und ein im Laufe der Jahrhunderte halb ausgechmolzener tschechischer Allesbrenner aus Gußeisen. Es gibt auch ein Fenster, aber das läßt zu keiner Tageszeit ein bißchen Sonne durch. Hier sieht man die dunkelgraue Mauer des Nachbarhauses durch. Karl wollte der Düsterheit seines Alltags, soweit die Kirche erlaubt, entkommen. Darum hat er die Wände seiner Wohnung mit einem Gelb von Babyscheiße angemalt.
Wir machen aber keinen Halt auf dem ersten Stock.
Auf dem zweiten Stock sperrt sie ihre Tür auf und wir sind in ihrer Wohnung. Wir kommen von der Tür hinein und befinden wir uns sofort in einem riesigen Raum.
„He, Ypsül“, sage ich „Das ist aber mein Proberaum“.
Der Raum ist fast 10 Meter hoch. Gleich von der Tür hineingekommen merken wir gleich, dass dieser Eingang überdacht ist. Der Gesamtraum ist fast 100 qm groß. Rundherum ist eine Holzgalerie. Blickfang war der Konzertflügel mit offenem Deckel in der Mitte. Rundherum waren Notenständer aufgestellt. Dahinter waren ein paar Tische und Sesseln für die Gäste. Rechts davon war eine Holztreppe. Dahinter die hohen Regale bildeten eine Zwischenwand mit einer schmalen Tür. Und dieser Tür öffnete sich zu einer kleinen Küche.
Auf der oberen Etage war mein Büro mit Schreibtisch, Komputer, Chefsessel etc. Aber auch Sitzplätze für die Gäste. In diesem Raum komponierte ich, probte mit meinem Ensemble. Bei der Generalprobe waren auch Gäste eingeladen. Nach den Konzerten kochte und servierte ich. Ich habe viele gute und aber auch sehr traurige Erinnerungen in diesem Raum.
Es stand in einer verlassenen technischen Versuchsanstalt. Wir haben das besetzt und hier enstand ein selbstverwaltetes Werkstättenhaus. Der große Raum war ohne Strom, ohne Wasser, ohne Abfluß. Desolat von Plafond bis zum Fußboden. Unbenützbar. Niemand wollte den haben. Nur ich wollte diesem Raum haben. Alle haben mich ausgelacht. Dann habe ich diesem Raum komplett renoviert und gestaltet. Plötzlich wurde Memos Raum hoch begehrt und berühmt. Alle wollten ihn haben. Nach jahrelangem Kampf gegen den Neid habe ich ihn verloren. Nach Jahren befinde ich mich völlig unerwartet wieder in diesem Raum, wenn auch in einem ganz anderen Ort. Aber der Raum ist ganz leer. Nur oben auf der Galerie sehe ich einen Sessel, eine auf den gußeisernen Füßen mit Jugendstill Ornamenten gestellten fußgetriebene Nähmaschine. Und Schären, Schneider Massband und Stoffreste...
Unten, neben der Holztreppe, wo früher mein Klavier stand war ein alter Holztisch und zwei Sesseln angebracht.
„Setzt dich“, sagt sie.
Ich bin sehr verwirrt. Ich sitze. Sie holt einen Korkenzieher und zwei Gläser.
„Auf Dich!“, sagt sie.
„Auf unsere Begegnung. Das ist meinem Glückstag“, sage ich.
Ich kann meine Neugier nicht beherrschen. Endlich frage ich sie:
„Ypsül, wovon lebst du jetzt?“ sage ich, „Von den Türkinnen“, sagt sie.
„Wie? „
„Schau hinauf!“.
Sie zeigt oben auf die Galerie. Das dürfte eine Schneiderwerkstatt sein.
„Ich produziere Schambekleidung aus schwarzem Stoff.“
„???“.
„Kopftücher, Mäntel, Burkinis, sogar Tschadors mit offenem Geschlechtsteilen fürs Islampuff.“
Ich bin verblüfft. Aber auch dann bleibe ich ein verschrobener Gelehrter.
„Glaubst du an Gott?“.
Sie lächelt mit dem schönsten Lächeln was ein Frauengesicht jemals anbieten kann.
Sie sammelt ihre Flickerkdecke ganz hinauf. Öffnet ihre Beine.
Hinter den dunkelblonden Ringeln der Schamhaare leuchtet ihre halboffene, feuchte, warme Vagina.
Das ist die Erlösung, dass ist Nirwana, das ist Djannat.
Ein mächtiger Blitz schlägt auf meine Amputationswunde, eben blitzschnell durchquert meinen Körper, läßt meinen Körper in Krämpfen erstarren, und explodiert in meinem Hirn wie ein Böller, zeichnet einen riesigen Regenschirm, und in Millionen von Glutkörnern regnet es schwebend herunter.
„Ypsül, Hilfe, Ypsül, wo bist du?“.

 
 
start: 09 decembre 2016, up-date: 09 decembre 2016